Darf man Falsches lehren? – Eine wissenschaftsdidaktische Überlegung

Von Prof. G. Vollmer
Darf man Falsches lehren?Eine wissenschaftsdidaktische Überlegung
Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Universität,
D-6300 Gießen (aus: Naturwissenschaften 76, 185 – 193 (1989)

Dass jemand bewusst Falsches lehrt, scheint sowohl die Ethik der Wissenschaft als auch die Pflichten des verantwortungsvollen Erziehers zu verletzen. Gleichwohl lehren wir regelmäßig Falsches, etwa Galileis Fallgesetze oder überhaupt klassische Mechanik. Und unter genau angebbaren Bedingungen dürfen wir das auch. Insbesondere muss die als falsch erkannte Theorie in anderen Hinsichten ausreichend brauchbar sein.

Eine Gewissensfrage?
Die Frage, ob man auch Falsches lehren dürfe, wird zunächst und spontan ein entschiedenes Nein hervor­rufen. Es schiene sowohl der Wahrheitssuche der Wis­senschaft als auch dem pädagogischen Auftrag des Lehrenden zu widersprechen. Allerdings werden auch sofort einige Bedenken und Einwände auftauchen, Einwände freilich, die eher den Sinn und die Berechti­gung der Frage als die verneinende Antwort betreffen. Sie sollten deshalb vorweg bedacht werden.

Erstens wissen wir, dass wir – auch als Lehrer – nicht gegen Irrtum gefeit sind. Da wir fehlbar sind und da unser Wissen immer vorläufig bleibt, kann im Prinzip jedes Element unseres Lehrstoffs auch falsch sein. Wer Wissen vermittelt, der läuft damit auch Gefahr, Irrtümer weiterzugeben. Und wer, um dieses Risiko zu vermeiden, nur als sicher Erkanntes lehren wollte, der dürfte überhaupt nichts mehr lehren. Das Verbot oder die Weigerung, Falsches zu lehren, kann sich also nur auf bekannt Falsches beziehen. Und die Frage lautet eben genauer: Darf man bewusst Falsches lehren? Darf man etwas lehren, von dem man bereits weiß, dass es falsch ist? Die spontane Antwort auf diese präzisierte Frage wird dann allerdings ein ebenso entschiedenes Nein sein.

Zweitens könnte man kritisch nachfragen, ob man denn wissen könne, dass eine Hypothese, eine Theorie oder ein Verfahren falsch ist. Wenn all unser Wissen fehlbar ist, wie kritische Rationalisten und hypotheti­sche Realisten behaupten, ist dann nicht auch unser Wissen um das Falsche und um die Fehlbarkeit unseres Wissens fehlbar? Wenn wir nichts sicher wissen, dann doch auch nicht, dass etwas falsch ist. Kommen wir dann überhaupt jemals in die Verlegenheit, gewusst Falsches zu lehren?

Die Einsicht in die Fehlbarkeit unseres Wissens bedeutet nicht, dass wir nichts wissen und nichts wissen können. Sie zeigt nur, dass wir Sicherheit nicht als Merkmal eines angemessenen Wissensbegriffs ansehen sollten. Fordert man nämlich, dass Wissen sicher sein müsse (so dass „sicheres Wissen“ ein Pleonasmus, „fehlbares“ oder „Vermutungswissen“ dagegen ein Selbstwiderspruch wäre), dann schließt die These von der Fehlbarkeit menschlichen Wissens ein, dass wir überhaupt nichts wissen, und dies würde unserer Intuition doch allzu sehr widersprechen. Nicht einmal in der Wissenschaft gäbe es dann Wissen; wenn aber hier nicht, wo sonst?

Akzeptieren wir jedoch einen Wissensbegriff, der Fehlbarkeit zulässt, dann können wir uns natürlich nicht nur darüber irren, was wahr, sondern auch darüber, was falsch ist. Und wir können dann auch wissen, dass etwas falsch ist, ohne dessen auch sicher sein zu müssen. In diesem Sinne also stellen wir die Frage, ob man etwas lehren – und damit als wahr hinstellen – darf, von dem man weiß, besser: zu wissen glaubt oder vermutet, dass es falsch ist. Und auch in diesem noch einmal präzisierten Sinne wird man die Frage wieder mit einem spontanen Nein beantworten. Schie­ne es doch das wissenschaftliche Ethos zu verletzen, wenn man „wider besseres Wissen“ Falsches lehren wollte.

Drittens könnte jemand sich vorsichtig oder auch hä­misch erkundigen, was mit „Wahr“ und „Wahrheit“ denn wohl gemeint sei, und die Antwort auf die zu-nächst gestellte Frage aussetzen, bis eine befriedigende Explikation des Wahrheitsbegriffs zur Verfügung steht. Man kann sogar vorgeben, gar nicht zu wissen, was eigentlich gefragt ist, solange eine solche Erläute­rung nicht gegeben wurde.

Nun ist es zwar leicht, für „Wahrheit“ irgendeine Defi­nition zu geben, sie zum Beispiel im Sinne der Korre­spondenztheorie als „Übereinstimmung mit der Wirk­lichkeit“ zu definieren; diese Definition wird aber nicht jeden befriedigen. Und es ist bekannt, dass eine allgemein anerkannte Wahrheitsdefinition bisher nicht existiert und vermutlich auch nie existieren wird.

In dieser Situation wird man nicht darauf bestehen, den Kritiker von der Angemessenheit der vorgeschla­genen Wahrheitsdefinition zu überzeugen, sondern sich damit begnügen, dass der Betreffende einen wenig­stens versteht. Die Frage, ob man Falsches lehren dür­fe, wird dadurch nicht sinnlos; sie wird aber – je nach Wahrheitsbegriff – verschiedene Deutungen und des­halb auch verschiedene Antworten zulassen. Und sind die Deutungen untereinander gleichwertig, so können auch ganz unterschiedliche Antworten ihre spezifische Berechtigung haben.

Im folgenden soll der Wahrheitsbegriff im Sinne der traditionellen Korrespondenztheorie verstanden und verwendet werden. Das Prädikat „wahr“ bezieht sich dabei ausschließlich auf Aussagen, also auf sprachli­che Gebilde, und beispielsweise nicht auf Dinge, Ei­genschaften oder Überzeugungen. Außerdem werden wir uns auf Aussagen über die Welt, also auf fakti­sche Hypothesen und Hypothesensysteme (Theorien) beschränken.

Nur nebenbei sei bemerkt, dass der viel zitierte Tarski­sche Wahrheitsbegriff’ der die klassische Korrespon­denztheorie zugrundelegt und verfeinert, zunächst nur für formale Sprachen gilt, für die Explikation fakti­scher Wahrheit dagegen noch nicht ausreicht.

Außerdem sei daran erinnert, dass die korrespondenz-theoretische Wahrheits­definition nicht auch schon automatisch ausreichende Wahrheitskriterien liefert. Solche Kriterien wie Konsens, Konsistenz, Kohärenz oder Erfolg können leicht hinzugefügt werden; ange­sichts der Vorläufigkeit unseres Wissens sind dabei jedoch keine erfüllbaren hinreichenden Wahrheitskriterien zu erwarten. Wir können zwar beschreiben, wann wir eine Aussage im allgemeinen als wahr ansehen; wir können auch – dieser Beschreibung folgend oder von ihr abweichend – festlegen, wann wir sie als wahr akzeptieren sollten; und wir können beschließen, wann wir sie als wahr akzeptieren wollen. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, die Anerkennung einer Tatsachenbehauptung durch andere argumentativ zu erzwingen, keinen Königsweg zur Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht nur häufig genug verborgen; auch einmal entdeckt, ist sie – entgegen Platon oder Descartes – nicht ohne weiteres oder gar zweifelsfrei als Wahrheit erkennbar [1].

Unsere Ausgangsfrage darf nun so interpretiert werden: Darf der Lehrende Aussagen als wahr hinstellen, von denen er weiß, dass sie mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, dass sie die Tatsachen nicht angemessen beschreiben? Auch hierauf wird die Antwort ein vielleicht nicht mehr so spontanes, aber doch wohl immer noch entschiedenes Nein sein. Ob und inwieweit dieses Nein berechtigt ist, soll dann Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein.

Viertens könnte man – und damit soll die Liste der Bedenken zunächst einmal enden – erneut tiefer bohren und fragen, ob es Wahr und Falsch denn überhaupt gibt und ob es – bei der Fragwürdigkeit des Wahrheitsbegriffs – wirklich sinnvoll ist, von der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen zu reden. Genügt es zum Beispiel nicht, wissenschaftliche Theorien als Instrumente, als Schlussfahrkarten, als Algorithmen zur Erstellung von Handlungsanweisungen zu betrachten? Sind die Begriffe ,wahr’ und ,falsch’ nicht entbehrlich, allenfalls eine Abkürzung für ,brauchbar’, ,praktisch’, ,ökonomisch’, ,zielführend’, ,erfolgsfördernd’?

Prof. G. Vollmer

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