Trugschlüsse und ihre Anwendungen

 Trugschlüsse und ihre Anwendungen

 von  Paul V. Dunmore
Ursprünglich erschienen in „New Zealand Mathematics Magazine“ 7, 15 (1970). Revidiert vom Autor.

Zitat:  
Ungefähr in den letzten hundert Jahren hat die Mathematik ein kolossales Wachstum in ihrem Umfang, ihrer Kompliziertheit und in der Spitzfindigkeit ihrer Methoden durchgemacht. Als Folge davon entstand ein Bedarf an flexibleren Methoden, Lehrsätze zu beweisen, als es mit den bisherigen mühseligen, schwierigen, umständlichen, strengen Methoden möglich war. Die neuen Methoden werden von einem bereits weit entwickelten Zweig der Mathematik geliefert. der unter dem Namen „verallgemeinerte Logik“ bekannt ist. Ich möchte nicht die Theorie der verallgemeinerten Logik im Detail entwickeln, doch muss ich einige notwendige Ausdrücke einführen. In der klassischen Logik besteht ein Theorem aus einem wahren Satz, für den ein klassischer Beweis existiert. In der verallgemeinerten Logik lockern wir beide Einschränkungen: Ein verallgemeinertes Theorem besteht aus einem Satz, für den es einen verallgemeinerten Beweis gibt. Ich glaube, daß die Bedeutung dieser Ausdrücke hinreichend klar sein sollte und wir keine ausführlichen Definitionen zu geben brauchen.  

Anwendungen verallgemeinerter Beweise kann man überall finden. Professionelle Verfasser von Lehrbüchern benützen sie freizügigst, besonders wenn sie mathematische Ergebnisse in physikalischen Lehrbüchern beweisen. Vortragende finden, daß der Gebrauch verallgemeinerter Beweise es ihnen ermöglicht, komplexe Ideen mit Leichtigkeit den Studenten auf einem elementaren Niveau darzubieten (wobei sich selbst der Vortragende tieferes Verständnis ersparen kann).

Forscher, die möglichst schnell die Priorität eines neuen Resultates in Anspruch nehmen wollen, oder denen es an Zeit und Absicht mangelt, Genauigkeit walten zu lassen, finden verallgemeinerte Beweise beim Abfassen ihrer Arbeiten äußerst nützlich. In diesem Falle haben verallgemeinerte Beweise den weiteren Vorzug, daß das Ergebnis nicht unbedingt wahr sein muss und daher so eine reichlich mühsame (und jetzt überflüssige) Einschränkung der verwendeten mathematischen Methoden fallen gelassen werden kann.  

Ich möchte jetzt einige der Beweismethoden betrachten, die im Rahmen der verallgemeinerten Logik zur Verfügung stehen. Hauptsächlich werde ich mich mit jenen Arten beschäftigen, in denen diese Methoden in Vorlesungsreihen angewendet werden können – es erfordert lediglich triviale Modifikationen, um sie in Lehrbüchern und Forschungsarbeiten zu verwenden.  

Die Methoden der Reduktion sind als erste wert, erwähnt zu werden. Wie jedermann weiß, gibt es zwei Methoden dieser Art. Die reductio ad nauseam und die reductio ad erratum. Beide Methoden beginnen in der gleichen Weise. Der Mathematiker nimmt als Ausgangspunkt an, daß das zu beweisende Resultat falsch wäre und schreibt alle Folgerungen dieser Annahme auf, die er sich ausdenken kann. Beide Methoden sind besonders wirkungsvoll. wenn ihre Konsequenzen in willkürlicher Reihenfolge niedergeschrieben werden, wenn möglich kreuz und quer auf der Tafel verteilt.  

Obwohl die Methoden in der gleichen Weise beginnen, ist ihr Ziel doch verschieden. In der „reductio ad nauseam“ ist es die Absicht des Vortragenden, alle seine Hörer einzuschläfern und sie davon abzubringen, mitzuschreiben. Wobei das letztere die wesentlichere Bedingung ist. Der Vortragende braucht nur die Tafel zu löschen und zu verkünden: „Auf diese Weise kommen wir zu einem Widerspruch und daher ist das Resultat gezeigt“. Dies braucht er jedoch nicht etwa laut zu sagen, ist es doch in jedem Fall das Signal, auf das jeder Hörer im Unterbewussten gewartet hat. Nun werden sie alle wieder munter und aufmerksam,. jedermann wird dann das Gefühl haben, man sollte sich den letzten Teil bei einem Kollegen besorgen. Wenn wirklich niemand mehr mitgeschrieben hat, ja dann gibt es auch keinen Kollegen mehr, bei dem man es abschreiben kann und das Resultat ist bewiesen.  

In der Methode „reductio ad erratum“ ist das Ziel etwas subtiler. Wenn der Beweis nur kompliziert und sinnlos genug ist, muss sich zwangsläufig ein Fehler einschleichen. Die ersten paar dieser Fehler werden wohl von einem aufmerksamen Auditorium aufgegriffen, doch früher oder später wird man es geschafft haben; eine Zeitlang wird dieser Fehler unbemerkt, sozusagen schlafend, tief verborgen in den Formeln liegen, doch schließlich wird er zum Vorschein kommen und seine Existenz dadurch zeigen, daß ein Widerspruch mit irgend etwas auftritt, was ebenfalls benötigt wird. Das Theorem ist somit bewiesen.  

Man sollte noch zur Kenntnis nehmen, daß bei der zuletzt beschriebenen Methode der Vortragende sieh nicht unbedingt bewusst zu sein braucht, daß er zufällig einen Fehler gemacht oder wie er diesen Fehler verwendet hat. Es gibt wahre Meister dieser Methode, die tiefe und subtile Fehler innerhalb von zwei oder drei Zeilen machen können und sie innerhalb von Minuten dann wieder an die Oberfläche bringen können – all dies aufgrund eines instinktiven Prozesses, dessen sie sich gar nicht bewusst sind. Für Kenner, die wissen, worauf es ankommt, kann die unbewusste Artistik, die von einem wahren Virtuosen dieses Faches geboten wird, ein atemberaubender Genuss sein.  

Es gibt eine weitere Klasse von Methoden, die dann in Frage kommen, wenn ein Vortragender von seiner Voraussetzung P zu einer Aussage A und von einer weiteren Aussage B zur gewünschten Schlussfolgerung C kommen kann, wenn er aber den Schritt von A nach B nicht vollziehen kann. Eine Anzahl von Techniken steht dem aggressiven Vortragenden in diesem Notfall zur Verfügung. Er kann niederschreiben: „Es gilt A“ und ohne Zögern hinzusetzen. „daher gilt auch B“. Wenn das Theorem uninteressant genug ist, so ist es unwahrscheinlich, daß irgend jemand das „daher“ infrage stellen wird. Dieses ist die Methode des Beweises durch Auslassung und es ist erstaunlich leicht, mit ihm auszukommen – oder anders gesagt – es ist erstaunlich leicht, ihn mit Erfolg anzuwenden.  

Als weitere Möglichkeit steht der Beweis durch Irreführung zur Verfügung, bei dem eine Aussage, die etwa die Form „Aus A folgt B“ hat, bewiesen wird. Man kann stattdessen das Gegenteil, nämlich „aus B folgt A“ beweisen: Man kann darauf jede Wette abschließen, daß dies einen Anfängerkurs stets zufriedenstellen wird. Der Beweis durch Irreführung hat ein abzählbar unendliches Analogon, nämlich die Methode des Beweises durch konvergente Belanglosigkeiten, die dann angewendet werden kann, wenn der Vortragende nicht unter Zeitdruck steht.  

Hin und wieder kann auch der Beweis durch Definition benützt werden: Der Vortragende definiert eine Menge S von beliebigen Größen, die er betrachtet und für die die Aussage B gültig ist und stellt fest, daß er in Zukunft nur mit Objekten aus S arbeiten wird. Selbst ein guter Jahrgang wird dies für bare Münze nehmen und nicht die Frage stellen, ob die Menge S nicht vielleicht leer wäre.  

Ein Beweis durch Behauptung ist unwiderlegbar. Sollte ein vages Argument, warum die Aussage B wahr sei, die Hörerschaft nicht zufriedenstellen, dann sagt der Dozent einfach. „Dieser Punkt sollte intuitiv klar sein. Ich habe ihn so klar wie möglich erläutert. Wenn Sie ihn noch nicht einsehen, so müssen Sie selbst sehr sorgfältig darüber nachdenken. Dann werden sie sehen. wie einfach und klar es ist“.  

Der Höhepunkt eines Beweises durch Eingeständnis der Ignoranz ist der Satz:
„Kein Lehrbuch kann diesen Punkt klar darstellen. Das Resultat ist sicherlich wahr, aber ich weiß den Grund nicht. Wir müssen es daher akzeptieren, so wie es hier steht“. Diese sonst äußerst befriedigende Methode hat den einzigen Nachteil, daß irgend jemand in der Hörerschaft wissen könnte, warum das Resultat stimmt – oder noch schlimmer – warum es falsch ist, und daß er dies auch sagt.  

Ein Beweis durch Hinweis auf eine nicht existente Referenz wird alle außer den unangenehmsten Störenfrieden zum Schweigen bringen. Zum Beispiel: „Sie finden einen Beweis dafür im Lehrbuch von Copson auf Seite 445“. was mitten im Index ist. Eine wichtige Variante dieser Technik kann von zwei Dozenten in gegenseitiger Ergänzung verwendet werden. Dr. Jones setzt ein Ergebnis voraus, welches Prof. Smith noch im selben Jahr beweisen wird, doch Prof. Smith stellt fest, daß er keine Zeit dafür hat und lässt jenen Lehrsatz aus, da er bereits von Dr. Jones behandelt wurde.  

Beweise durch physikalische Argumentation liefern Eindeutigkeitssätze für viele schwierige Systeme von Differentialgleichungen, doch sie haben nebenbei andere wichtige Anwendungen. Die Kosinusformel für ein Dreieck kann man erhalten, indem man das Gleichgewicht eines mechanischen Systems betrachtet(Physiker kehren dann das Verfahren um und erhalten so die Bedingungen für das Gleichgewicht des Systems aus dem Kosinussatz, statt aus dem Experiment).  

Der letzte und unwiderlegbare Ausweg allerdings ist die wohlbekannte Technik, den Beweis abzuschieben. In einem Lehrbuch erkennt man sie durch folgende typischen Phrasen: „Man kann leicht zeigen, daß. . . .“ oder „Wir überlassen es dem Leser als eine leichte Übung zu beweisen, daß . . . .“ (Die Worte leicht oder trivial sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Techniken.)  

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Ich habe nicht die speziellen Methoden erwähnt, wie zum Beispiel die Division durch Null, Ziehen der falschen Quadratwurzeln, Misshandlung divergenter Reihen und so weiter. Diese Methoden sind zwar sehr wirkungsvoll, sie werden jedoch ausreichend in der Standardliteratur beschrieben. Auch habe ich nicht das weniger bekannte Fundamentaltheorem der gesamten Mathematik diskutiert, das zeigt. daß jede Zahl Null ist (und dessen Beweis dem interessierten Leser viele Stunden Erbauung und eine ausgezeichnete Übung in der Anwendung der soeben beschriebenen Methoden bringt.)  Jedoch wird es allen klar geworden sein, welche unbekannten Schätze im Studium der verallgemeinerten Logik ruhen und ich appelliere an die Mathematikinstitute, anrechenbare Kurse in diesen Zweigen einzurichten. Dies sollte vorzugsweise auf Anfängerniveau geschehen, so daß jene. die mit lediglich einem Baccalaureat ins Lehramt gehen, mit dem Gegenstand vertraut sein sollten. Es ist völlig sicher, daß in Zukunft niemand mehr von sich sagen kann, daß er eine mathematische Ausbildung genossen habe, ohne eine gute Grundlage zumindest in der praktischen Anwendung der verallgemeinerten Logik zu haben.

(Zitatende, Hervorhebungen durch Fettdruck von Friebe)

 

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