Thomas Samuel Kuhn: „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“

 

By Thomas Samuel Kuhn  
„Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (Titel der Originalausgabe: „The Structure of Scientific Revolutions“ 1962, 1970)

Nachstehend bringe ich eine Leseprobe aus Kapitel IX. des Buches von Th. S. Kuhn:  
Das Wesen und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Revolutionen (Seiten 120 bis 122 der 2. deutschen Auflage von 1976).

Zitat:
Clerk Maxwell teilte mit anderen Befürwortern der Wellentheorie des Lichts im neunzehnten Jahrhundert die Überzeugung, daß sich die Lichtwellen durch einen materiellen Äther fortpflanzen müssen. Das Ersinnen eines mechanischen Mediums, das solche Wellen trüge, war für viele seiner fähigsten Zeitgenossen ein Standardproblem. Seine eigene Theorie jedoch, die elektromagnetische Theorie des Lichts, hatte überhaupt keine Erklärung für ein Medium, das in der Lage wäre, Lichtwellen zu tragen, und sie machte ganz offensichtlich das Auffinden einer Erklärung noch schwieriger, als es vorher bereits erschien.

Anfänglich war Maxwells Theorie aus ebendiesen Gründen weithin abgelehnt worden. Aber wie bei Newtons Theorie erwies es sich auch bei derjenigen Maxwells als schwer, auf sie zu verzichten, und als sie den Status eines Paradigmas erlangte, änderte sich die Haltung der Gemeinschaft ihr gegenüber. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wirkte Maxwells Beharren auf der Existenz eines mechanischen Äthers bald nur noch wie ein Lippenbekenntnis, was es ganz entschieden nicht gewesen war, und die Versuche, ein solches ätherisches Medium zu ersinnen, wurden aufgegeben. Die Wissenschaftler hielten es nicht mehr für unwissenschaftlich, von einer elektrischen »Verschiebung« zu sprechen, ohne anzugeben, was verschoben wurde. Das Ergebnis war wiederum eine neue Reihe von Problemen und Normen, die schließlich wesentlich an der Entstehung der Relativitätstheorie beteiligt waren [Anmerkung 10].

Diese charakteristischen Verlagerungen in der Auffassung der wissenschaftlichen Gemeinschaft von ihren gültigen Problemen und Normen wären für die Thesen dieses Essays weniger bedeutungsvoll, wenn man annehmen könnte, daß sie sich immer von einem methodologisch niedrigeren zu einem höheren Typ vollzögen. In diesem Falle würden auch ihre Wirkungen als kumulativ erscheinen. Es ist kein Wunder, daß einige Historiker behauptet haben, die Geschichte der Wissenschaft zeige eine fortlaufende Steigerung der Reife und Verfeinerung der menschlichen Auffassung vom Wesen der Wissenschaft [Anmerkung 11].

Doch ist es noch viel schwieriger, Argumente für eine kumulative Entwicklung der wissenschaftlichen Probleme und Normen vorzubringen, als für eine Kumulierung von Theorien. Der Versuch, die Schwerkraft zu erklären, wurde zwar von den meisten Wissenschaftlern des achtzehnten Jahrhunderts mit Gewinn aufgegeben, war aber nicht auf ein an sich illegitimes Problem gerichtet; die Einwände gegen innewohnende Kräfte waren weder unwissenschaftlich noch in irgendeinem herabsetzenden Sinne metaphysisch. Es gibt keine äußeren Normen, die eine Beurteilung dieser Art gestatten. Was geschah, war weder ein Absinken noch eine Hebung der Normen, sondern einfach ein Wechsel, den die Annahme eines neuen Paradigmas forderte. Außerdem ist dieser Wechsel seitdem rückgängig gemacht worden und könnte es nochmals werden. Im zwanzigsten Jahrhundert gelang es Einstein, die Schwerkraft zu erklären, und diese Erklärung hat die Wissenschaft zu einer Reihe von Kanons und Problemen zurückgebracht, die in diesem speziellen Punkt eher denen von Newtons Vorgängern als denen seiner Nachfolger ähneln.

Ein anderes Beispiel: die Entwicklung der Quantenmechanik hat das methodologische Verbot, das in der chemischen Revolution entstand, umgekehrt. Die Chemiker versuchen jetzt, und zwar mit großem Erfolg, die Farbe, den Aggregatzustand und andere Eigenschaften der in ihren Laboratorien verwendeten und erzeugten Substanzen zu erklären. Ein ähnlicher Umschwung könnte selbst in der elektromagnetischen Theorie im Gange sein. Der Raum ist in der heutigen Physik nicht die inaktive und homogene Grundlage, als die er in Newtons und Maxwells Theorie auftrat; einige seiner neuen Eigenschaften sind den einst dem Äther zugeschriebenen nicht unähnlich; eines Tages werden wir vielleicht wissen, was eine elektrische Verschiebung ist.

Indem die obigen Beispiele die Betonung von den kognitiven auf die normativen Funktionen des Paradigmas verlagern, erweitern sie unser Verständnis der Art und Weise, in der Paradigmata dem wissenschaftlichen Leben Form verleihen. Vorher haben wir in der Hauptsache die Rolle des Paradigmas als Träger einer wissenschaftlichen Theorie untersucht. In dieser Rolle funktioniert es, indem es dem Wissenschaftler sagt, welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten. Durch diese Informationen entsteht eine Landkarte, deren Einzelheiten durch reife wissenschaftliche Forschung aufgehellt werden. Und da die Natur viel zu komplex und vielfältig ist, um auf gut Glück erforscht zu werden, ist diese Landkarte genauso wichtig für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wissenschaft wie Beobachtung und Experiment. Durch die von ihnen verkörperten Theorien erweisen sich die Paradigmata als grundlegend für die Forschungstätigkeit. Sie sind jedoch für die Wissenschaft in noch anderer Hinsicht konstitutiv, und darauf kommt es uns nun an.

Besonders unsere letzten Beispiele zeigen, daß die Paradigmata die Wissenschaftler nicht nur mit einer Landkarte versorgen, sondern auch mit einigen wesentlichen Richtlinien für die Erstellung einer Landkarte. Wenn der Wissenschaftler ein Paradigma erlernt, erwirbt er sich Theorien, Methoden und Normen, gewöhnlich in einer unentwirrbaren Mischung. Wenn Paradigmata wechseln, gibt es deshalb normalerweise bezeichnende Verschiebungen der Kriterien, welche die Zulässigkeit von Problemen und den sich anbietenden Lösungen bestimmen.

Diese Beobachtung bringt uns zum Ausgangspunkt dieses Abschnittes zurück, denn sie liefert uns den ersten deutlichen Hinweis darauf, warum die Wahl zwischen konkurrierenden Paradigmata regelmäßig Fragen aufwirft, die mit den Kriterien der normalen Wissenschaft nicht gelöst werden können. In dem Maße — einem ebenso bezeichnenden wie lückenhaften Maß –, in dem die Auffassungen zweier wissenschaftlicher Schulen darüber, was ein Problem und was eine Lösung ist, auseinander gehen, werden sie zwangsläufig aneinander vorbeireden, wenn sie über die relativen Vorzüge ihrer jeweiligen Paradigmata diskutieren. In den sich regelmäßig ergebenden, teilweise im Kreis laufenden Argumenten wird für jedes Paradigma gezeigt, daß es mehr oder weniger den Kriterien, die es sich selbst vorschreibt, gerecht wird und einigen jener Kriterien, die ihm von seinen Gegnern zudiktiert werden, nicht völlig genügt.

Es gibt auch noch andere Gründe für die Lückenhaftigkeit logischer Kontakte, die durchweg die Paradigmadiskussionen charakterisiert. Da beispielsweise kein Paradigma jemals alle von ihm definierten Probleme löst und da keine zwei Paradigmata genau dieselben Probleme ungelöst lassen, bringen Paradigmadiskussionen immer die Frage mit sich: die Lösung welcher Probleme ist bedeutsamer? Wie der Streit konkurrierender Normen kann diese Wertfrage nur im Rahmen von Kriterien entschieden werden, die außerhalb der normalen Wissenschaft liegen, und gerade diese Zuflucht zu äußeren Kriterien macht ganz offensichtlich die Paradigmadiskussionen revolutionär. Es geht aber noch um etwas Grundlegenderes als Normen und Werte. Bisher habe ich nur behauptet, Paradigmata seien konstitutiv für die Wissenschaft. Jetzt möchte ich darlegen, inwiefern sie auch für die Natur konstitutiv sind.

(Zitatende)

Kommentare

Einen eigenen Kommentar schreiben

Hinterlassen Sie eine Antwort

Erlaubter XHTML-Code: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>