Das Wechselspiel von Theorie und Experiment

Das Wechselspiel von Theorie und Experiment im physikalischen Erkenntnisprozeß
von Wilfried Kuhn,  Institut für Didaktik der Physik der Universität Gießen
 
Quelle:
KUHN, W. (1983): Das Wechselspiel von Theorie und Experiment im physikalischen Erkenntnisprozeß, DPG-Didaktik-Tagungsband 1983, S. 416 – 438.  Hrsg.: Scharmann, Hofstaetter und Kuhn, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Zitat:
Mit der Absicht, das Wechselspiel von Theorie und Experiment – die Methode der Physik – zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung zu machen, setzt man sich leicht dem Verdacht aus, Eulen nach Athen tragen zu wollen.

Der Physiker weiß doch wohl, wie man Experimente anlegt und experimentelle Daten mit theoretischen Konzepten in Verbindung bringt. Eine aufmerksame Betrachtung des Lehr- und Prüfungsbetriebs, sowie das Studium der gängigen Fachliteratur offenbaren jedoch eine sehr unbefriedigende Situation, die als bedenkliche wissenschafts- theoretische Selbstgenügsamkeit vieler Spezialisten charakterisiert werden kann.

Deshalb ist es kaum verwunderlich, wenn dieser Zustand den bekannten Wissenschaftstheoretiker I. LAKATOS zu der Bemerkung reizte, viele Physiker verstünden von dem wissenschaftstheoretischen Hintergrund ihrer Disziplin so viel wie die Fische von der Hydrodynamik (1). Grund genug sich mit dieser „Hydrodynamik“ immer wieder auseinanderzusetzen.

Die zitierte Metapher von LAKATOS sollte aber keine Polemik vermuten lassen. Die Absicht der folgenden Untersuchung ist eine wissenschafts-theoretisch-didaktische. Um das Wechselspiel von Theorie und Experiment wirklich verstehen zu können, sollen die entscheidenden Entwicklungslinien der Herausbildung der physikalischen Methode im historischen Kontext analysiert werden.

Damit folgen wir der These MAX JAMMERs:
„Was eigentlich Physik ist, kann nur historisch verstanden werden“ (2).
 

1. Die Wurzel der physikalischen Methode

Unser physikalisches Denken ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden. Mit der Entwicklung der Methode dieses Denkens verbinden wir schlechthin GALILEI (1564-1642) und NEWTON (1642-1727). Sie gelten mit Recht als die eigentlichen Vollender eines langen, mühevollen geistigen Ringens um die methodischen Grundlagen der klassischen Physik.

Die Wurzeln dieses Prozesses reichen zurück bis ins 6. Jahrhundert vor Christus ins klassische Griechenland. Im wesentlichen lassen sie sich durch die Namen PLATON (428-348), ARISTOTELES (384-322) und ARCHIMEDES (287-212) charakterisieren.
 

1.1 Das pythagoreisch platonische Konzept

Kennzeichnend für diese Denkrichtung ist die Grundthese: Die Dinge sind Zahlen – der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl. Getragen ist diese These von der Überzeugung, daß es möglich sei, die Natur auf ein System mathematischer Entitäten und ihrer gegenseitigen Relationen abzubilden. Wichtiges Indiz für dieses Konzept schien den Pythagoreern ihre Entdeckung, daß die konstanten Intervalle Oktave, Quinte, Quarte durch die Zahlenverhältnisse 2:1, 3:2 und 4:3 entsprechender Saitenlängen dargestellt werden können. Auch im kosmischen Bereich glaubten die Pythagoreer an die Existenz solcher himmlischer Harmonien. In diesem Sinne brachten sie den Umlauf der Himmelskörper mit musikalischen Akkorden in Verbindung.  

Diese „Sphärenmusik“ läßt 2000 Jahre später JOHANNES KEPLER (1571-1630) in seinem Werk „Harmonices Mundi“ wieder aufklingen. GOETHE ist von solcher Art Naturbetrachtung fasziniert. Im Faustprolog läßt er den Erzengel Raphael verkünden: „Die Sonne tönt nach alter Weise in Bruderssphären Wettgesang . . .“.  

In der Tradition der Pythagoreer steht PLATON. Ein wichtiger Grundgedanke seiner Naturphilosophie besteht darin, die wahrnehmbaren Dinge nur für unvollständige Bilder oder Spiegelungen idealer Formen oder Ideen zu halten (Höhlengleichnis).

Nicht die Phänomene sind das wahrhaft Seiende, sondern die sich hinter ihnen verbergenden „idealen“ mathematischen Formen.

Daher muß die Erfahrung in einer Weise transzendiert werden, welche diese ideale mathematische Ordnung der Erscheinungen offenbart (Abb. 1).  

 Abbildung 1 KUHN

Abb. 1: Der pythagoreisch-platonische Ansatz

So stellt er den Astronomen die methodische Forderung, in der wirren Unregelmäßigkeit der Planetenbewegungen das mathematische System idealer gleichförmiger Kreisbewegungen aufzudecken.

Dieses Postulat hat die Entwicklung der ganzen Astronomie von PTOLEMÄUS bis COPERNICUS und KEPLER entscheidend beeinflußt. Dabei spielte die Unterscheidung zwischen physikalischen Theorien über die wirkliche Struktur der Welt und den mathematischen Hypothesen, die lediglich der „Rettung der Phänomene“ dienen, eine wichtige Rolle. Diese Hypothesen erklären nicht, warum die Phänomene so sind, wie sie sind; sie dienen nur der modellmäßigen Beschreibung. Dieses Herausstellen von zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen hat in der Entwicklung der Physik wichtige Akzente gesetzt.

In PLATONs berühmtem naturwissenschaftlichen Dialog „Timaios“, in dem die Materie mit Hilfe von geometrischen Figuren und mathematischen Symmetrien erklärt wird, zeigt sich die pythagoreische Tradition des platonischen Konzeptes besonders deutlich.

Wie sehr diese platonische Wurzel auch wesentlich GALILEIs Denken bestimmt, bringt er selbst in beredter Weise zum Ausdruck:

„Philosophie steht in dem großen Buch – ich meine das Universum – das stets offen vor uns liegt, aber wir können es erst verstehen, wenn wir die Sprache und die Buchstaben verstehen, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort daraus zu verstehen“ (3).

Zitatende

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