Das Glasperlenspiel der modernen Physik

Glasperlenspiel

Das Glasperlenspiel der modernen Physik
von Universitätsprofessor Dr. Ing. Rudi Waibel, Neu­biberg bei München 

Quelle:
Zeitschrift: „raum&zeit“, Nr. 55 (1992), Seiten 62 – 67 

Zitat: 

„Die Nachdenklichkeit wächst“ heißt es in einer raum&zeit-Werbeanzeige. Das Buch „Eine Geschichte des Glasperlenspiels, Irre­versibilität in der Physik, Irritationen und Folgen“ des Universitätsprofessors Dr. Ing. Dieter Straub von der Bundeswehrhochschule München (Thermodynamik und Wärmeübertragung) ist ein weiteres Beispiel für diese Behauptung. Das Buch analysiert messerscharf die geistig-ethische Krise, in der sich die Deutsche Physik zur Zeit befin­det. Der Kollege des Buchautors, Professor Dr. Waibel, hat die nicht leichte Aufgabe übernommen, das Buch, das fundamentale Diskussionen auslösen wird, für raum&zeit zu besprechen. Es wurde mehr als eine Be­sprechung. Es wurde eine ausgezeichnete Bestandsaufnahme sowohl der Ursachen für die Krisis der Deutschen Physik als auch eine fabelhafte Einführung in die Gedan­kengänge des Buchautors. 

Dieses für einen brei­ten interessierten Le­serkreis geschriebene Buch über die Ent­wicklung der Naturwissenschaf­ten deren Weichenstellung und auch Irrwege, erschien zu einem Zeitpunkt, als die deutsche phy­sikalische Gesellschaft (DPG) zum Sturm gegen die öffentli­che Förderung der bemannten Raumfahrt blies. Gleichzeitig genieren diese Vertreter sich nicht – sie betrachten es als pure gottgegebene Selbstver­ständlichkeit -, die Präsidentenposten der wichtigsten nationa­len und internationalen Luft- und Raumfahrtinstitutionen, wie der DARA, DLR und der ESA, mit prominenten theoreti­schen Physikern zu besetzen. Unabhängig davon, ob es Grün­de für dieses Verdikt gibt, stellt sich die Frage, was die Reprä­sentanten der DPG über einen ebenso massiven Protest der verschiedenen deutschen Inge­nieurgesellschaften, wie des VDI oder VDE, beispielsweise gegen die immer gigantischeren Ansprüche an Teilchenbe­schleuniger einwenden würden. Immerhin drückte sich bereits vor vielen Jahren kein geringe­rer als W. Heisenberg eindeutig gegen die mit dieser Elephantitis verbundene utopische Erwar­tungshaltung der Elementarteil­chenphysiker zu solcherart Grundlagenforschung aus. 
  

Physikalisches Kirchenlatein

Dieser heute nahezu selbstver­ständliche Anspruch prominen­ter Theoretischer Physiker auf öffentliche Anerkennung und ge­sellschaftlichen Einfluß ist inso­fern schwer zu begreifen, da de­ren wissenschaftliche Qualifika­tion auf Veröffentlichungen be­ruht, die der breiten Öffentlich­keit weder bekannt noch ver­ständlich sind. Eine solche Situation ist historisch nur mit je­nem Zeitraum vergleichbar, als das Kirchenlatein dem Klerus als Herrschaftsinstrument gegenü­ber einer fast nur aus Analpha­beten bestehenden Gläubigenschar diente.

Von der breiten Öffentlichkeit wird ein solcher auf fachmänni­sche Beratung ausgerichteter Einfluß anscheinend nicht er­wartet, vor allem dann nicht, wenn es kommunalen Reprä­sentanten gelingt, sich die Bera­tung eines renommierten Astro­physikers zu aktuellen Fragen der Stadtplanung zu sichern. Natürlich helfen dazu die Medi­en eifrig mit, zumal dann, wenn die Gelegenheit besteht, mög­lichst paradoxe physikalische Theorien fernsehwirksam zu vermarkten. Die modische Theorie vom deterministischen Chaos ist hierzu ein aktuelles Beispiel. In fast allen Kanälen wurde diese Theorie zum Teil in umfangreichen und aufwendi­gen Sondersendungen präsen­tiert; einige Wissenschaftsre­dakteure stellten dabei ab­sonderliche Verknüpfungen zwischen chaotischem Verhal­ten und Wetterveränderungen oder kosmische Katastrophen oder gar AIDS-Ausbreitung her.

Das „Wechselspiel“ zwischen hoher Wissenschaft und an­spruchsvoller Journalistik funk­tionierte in diesem Fall vorzüg­lich: Im selben Jahr – 1990 – hat die DPhG fast alle ihre wissen­schaftlichen Preise an Forscher mit starker Affinität zur Chaosforschung verliehen. Sie nahm bislang nicht zur Kenntnis, daß inzwischen erwiesen ist, daß na­hezu alle publizierten Chaoslö­sungen „prominenter“ Differen­tialgleichungen „fabriziert“ sind.

Einer der Preisträger bezog sich in seinem Festvortrag aus­drücklich auf eine solche „Chaoslösung“ (Lorenz-Attraktor) als maßgebliche Anregung für seine preisgekrönten Forschungsar­beiten. Die Beispiele stellen eine Momentaufnahme einer Ent­wicklung des einflußreichen Teils der „Scientific Community“ dar, die in diesem, hier zu bespre­chenden neuen Buch unter zahl­reichen Aspekten analysiert wird. 
  

Tendenz zur Realitätsferne

Der Autor dieses Buches führt jene Entwicklung auf eine stetig zunehmende Tendenz der theo­retischen Physik zur Realitätsfer­ne zurück. Erstaunlich viele Phy­siker entwickelten Neigungen zur Spiritualität und Esoterik. In ihrem eigentlichen Metier bilden sich zunehmend immer mehr kleine internationale Fachgrup­pen, deren Mitglieder nur noch untereinander – nach Möglich­keit mit eigener Fachsprache -kommunizieren.

So ist es in der deutschen Hochschullandschaft seit gerau­mer Zeit symptomatisch, daß z.B. an ingenieurwissenschaftli­chen Fakultäten Physiker auf Lehrstühle für viele Fächer beru­fen werden; der umgekehrte Fall kommt so gut wie nie vor: die Einbahnstraße ist typisch, In­zucht erscheint als normal.

Der Titel des Buches beruft sich mit seinem Bezug auf das Glasperlenspiel absichtlich auf Hermann Hesse’s Hauptwerk, wobei in bemerkenswerter Wei­se alle die umfangreichen Mate­rialien zu diesem berühmten Buch berücksichtigt sind. Aus ih­nen lassen sich mehrere voneinander erheblich abweichende Fassungen nachweisen, die Her­mann Hesse zur anschaulichen Beschreibung seiner imaginären „Geschichte des Glasperlenspiels“ herangezogen hat. Be­sonders die letzte Fassung betont jene Elemente der Spielpraxis, die zu einer unweigerlich ästheti­sierenden Sterilität der Spielre­geln führten und die Rituale des Glasperlenspiels zur Selbstdar­stellung der Spielmeister – der Ludi Magistri – werden ließ.

Der Autor benutzt Hesses Le­gende in doppelter Hinsicht als Allegorie zur bildhaften Darstel­lung eines Abstractums: Die Theoretische Physik. Er analy­siert dabei nicht nur deren Inhal­te und Methoden, sondern zielt auch auf ihre Organisationsfor­men, Hierarchien und Helden. Mit einer Zitatenkollage aus der Einleitung zu Hesses Alterswerk gelingt dem Autor eine gleicher­maßen witzige und treffende Per­siflage über die Rituale und Eitel­keiten des modernen Wis­senschaftsbetriebs und seiner Repräsentanten. Dieses kurze Kapitel, in dem der Schriftsteller dem Wissenschaftler in nichts nachsteht, trennt Straubs „Glas­perlenspiel“ in einleitenden Teil und Hauptteil mit den Kapiteln vier bis acht.

Die Scharnierfunktion dieser kurzen satirischen Beschreibung der akademischen Regeln des „wissenschaftlichen“ Glasperlenspiels besteht vor allem darin, Anspruch und Anliegen des Au­tors deutlich von den Versuchen abzusetzen, beide seriös zu be­gründen und exemplarisch zu be­legen. Sie soll so den beim Leser beabsichtigten Eindruck verstär­ken, daß die in der Satire offen­sichtlichen Analogien zwischen Schein und Wirklichkeit nicht zu­fällig und noch weniger komisch sind. 
  

Heilige Theoretische Physik pure Ideologie

Das Thema selbst, das wenig Raum für Satire läßt, befaßt sich mit den historischen, gesell­schaftlichen, aber vor allem wis­senschaftlichen Sachverhalten und Hintergründen, die zur Theoretischen Physik in ihrer heutigen Verfassung als pure Ideologie führten. Der Autor führt am Beispiel der nach wie vor ständigen Auseinanderset­zung um die Rolle der Irreversibi­lität den Nachweis, daß die stren­ge Dogmatik der Physik auf zwei Säulen beruht: auf der immer un­durchsichtigeren Formalisierung mittels Mathematik und auf einer spezifischen, zunehmend un­duldsamen Konsensbildung in­nerhalb der internationalen Scientific Community.

Dieser „inneren“ Struktur ent­spricht die Außenwirkung der Theoretischen Physik in der durch die Medien informierten breiten Öffentlichkeit. Zur Zeit gibt es kaum ein publizitätsträchti­ges Thema, zu dem nicht promi­nente Physiker in Interviews oder Talkshows ihre Meinung zum Be­sten geben, egal, ob es sich um den Frieden, die Müllverbren­nung, das Ozonloch oder um Stadtplanung handelt. Dabei äußern sie keineswegs als Prof. X oder Dr. Y ihre persönliche sub­jektive Meinung; sie sprechen auch nicht als Experten, sondern stets als Universalisten, sozusagen als die personifizierte Objektivität. 

Dieser heute na­hezu selbstver­ständliche An­spruch promi­nenter Theoreti­scher Physiker auf öffentliche Anerkennung und gesell­schaftlichen Ein­fluß ist insofern schwer zu be­greifen, da de­ren wissen­schaftliche Qua­lifikation auf Veröffentlichun­gen beruht, die der breiten Öffentlich­keit weder bekannt noch verständ­lich sind. 

(Zitatende)

Lesen Sie bitte hier weiter!

Kommentare

Einen eigenen Kommentar schreiben

Hinterlassen Sie eine Antwort

Erlaubter XHTML-Code: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>