Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft
Von Dr. rer. nat. Harald Zycha
(Auszug aus dem Buch: "Natur Ganzheit Medizin", Kapitel 7)
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"Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt Undurchführbares". So hat vor 400 Jahren der Mathematiker Galilei die Mathematik zum Grundwerkzeug der Physik erklärt. Für den Beginn der klassischen Naturwissenschaft, die sich zur Grundlage der heutigen Technik weiterentwickelt hat, ist diese Vorstellung verständlich und daher naheliegend. Ohne Einsatz der Mathematik kann es auch keine Anwendung der Physik auf unsere Welt geben!
Weil aber jene Vorstellung, wie wir schon mehrfach gesehen haben, zu einer Überbewertung der Mathematik in der Physik geführt hat, mit all den „Nebenwirkungen“ durch die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Irrtümer, möchte ich diese Problematik an dieser Stelle noch einmal explizit zur Sprache bringen. Vorweg die Feststellung: Die Mathematik ist (im Rahmen der Logik) die einzige wirklich exakte Wissenschaft, über die wir verfügen, aber es ist ein verhängisvoller Irrtum anzunehmen, daß man mit ihrem Einsatz in der Physik auch deren Exaktheit auf diese übertragen hätte. Das soll in dem Folgenden deutlich gemacht werden.
Es geht also jetzt konkret um die Frage, was die Mathematik in der Naturwissenschaft leistet: Inwieweit vermittelt sie einen Bezug dieser Wissenschaft zur Realität bzw. zur Wirklichkeit? Kann sie neue Seins-Erkenntnisse zutage fördern?
Hierzu zunächst zwei positive Stellungnahmen. B. Kanitscheider: „In der aristotelischen Wissenschaftsphilosophie fehlt eine wesentliche Zielvorstellung, die wir heute als für einen hohen Erfolgsgrad der Erkenntnis unabdingbar ansehen, nämlich die Mathematisierung.“ W. Heisenberg:„Unter allen möglichen Formen des Verständnisses wird die eine, in der Mathematik praktizierte Form als das ‚eigentliche’Verständnis ausgewählt.“ Damit geht Heisenberg in der Mathematik-Euphorie sicher am weitesten, indem er den philosophischen Zusammenhang, nämlich das Verstehen, von der mathematischen Behandlung der Natur abhängig machen will. Diese zunächst ungebremste Begeisterung für eine solche Auffassung zeigt sich auch in seiner allseits bekannten, aber immerhin doch vergeblichen Suche nach einer mathematischen Weltformel.
Heisenberg räumt aber dann doch an einer anderen Stelle ein, daß wir im Hinblick auf die in der Atomphysik verwendete „hochentwickelte mathematische Sprache, die hinsichtlich Klarheit und Präzision alle Ansprüche befriedigt [ … ] nicht wissen, wie weit [sie] auf die Erscheinungen angewendet werden kann. Letzten Endes muß sich auch die Wissenschaft auf die gewöhnliche Sprache verlassen, da sie die einzige Sprache ist, in der wir sicher sein können, die Erscheinungen wirklich zu ergreifen.“
In diesen widersprüchlichen Äußerungen ist eine gewisse Unsicherheit gegenüber der mathematischen Methode nicht zu übersehen. Und hier setzt dann auch die eigentliche Kritik an. Paul Feyerabend: „Die moderne Wissenschaft hat mathematische Strukturen entwickelt, die alles Bisherige an Systematik und Allgemeinheit übertreffen. Doch um dieses Wunder zu wirken, mußten alle bestehenden Schwierigkeiten in die Beziehung zwischen Theorie und Tatsachen verschoben und durch Ad-hoc-Näherungen und andere Verfahren verdeckt werden.“ Feyerabend illustriert diesen Vorwurf an einem Beispiel aus von Neumanns Arbeiten zur Quantenmechanik.
Hierzu möchte ich noch einmal an die im vorigen Abschnitt zitierten Äußerungen des Wissenschaftstheoretikers Bochenski erinnern: Es ist die Methode, alle jene Schwierigkeiten „auszulagern“, die dem mathematischen Formalismus, weil er eben zu eng ist, im Wege stehen.
Aus dem Kreis um Duhem und Poincaré ist zu vernehmen: „Mathematische Gesetze sind nichts weiter als sinnvolle Konventionen, um das Resultat möglicher Experimente kompakt auszudrücken.“ Straub zitiert Machs Einsicht, „daß Physik nicht auf Mathematik reduziert werden kann, daß die Physik Erkenntnisse grundsätzlicher Natur enthält, die den Menschen nur die Erfahrung gelehrt hat.“
Der Einsatz der Mathematik in der Physik enthält also zwei Schwachpunkte: zum einen die Beschränkung ihres Bezugs zur Natur durch ihre einengende, abstrahierende Präzision, zum anderen ihre erkenntnistheoretische Sterilität, auf die ich jetzt noch etwas näher eingehen möchte.
Diese Sterilität liegt schon imtautologischen Charakter der Mathematik, der nach H. Weyl nur durch das Prinzip der „vollständigen Induktion“ durchbrochen wird, das aber in der Anwendung auf die Physik kaum jemals zum Zuge kommen dürfte. Ein tautologisches System hat (in der Kantschen Ausdrucksweise) rein analytischen Charakter, keinensynthetischen, kann also prinzipiell niemals eine neue Erkenntnis hervorbringen, sondern nur eine bereits bekannte Aussage, und sei sie noch so versteckt in die Theorie eingebracht, in eine andere Form überführen.
Im günstigsten Fall kann das einer neuen Erkenntnis den Weg bereiten, indem durch eine mathematische Transformation eine andere Sicht des in sie hineingesteckten Daten-zusammenhangs möglich wird, in der dieser leichter durchschaubar wird. Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie: Man kann sie auffassen als eine gigantische mathematische Transformation der bereits zuvor bekannten Zusammen-hänge. Die durch sie ermöglichten Entdeckungen der Lichtablenkung im Gravitationsfeld der Sonne und der Periheldrehung des Merkur zeigen eigentlich „nur“, daß die Theorie mathematisch richtig durchgerechnet wurde, denn diese Effekte hätten im Prinzip, wenn auch vielleicht etwas schwieriger, schon aus den zuvor bekannten Theorien und Daten gefunden werden können. So großartig diese geistige Leistung auch ist, zeigt sie doch, wie etwa im Lehrbuch der Theoretischen Physik von Joos nachzulesen ist, „im Grunde nur die ungeheure Anpassungsfähigkeit der mathematischen Ausdrucksweise“.
Im ungünstigen Fall kann durch den Verlaß auf mathematische Algorithmen eine Erkenntnis fehlgeleitet werden, indem diese verdeckte fehlerhafte Prämissen, deren Fragwürdigkeit man sich vielleicht gar nicht bewußt ist, zu Ergebnissen ausarbeiten, die mit der Wirklichkeit in Konflikt stehen. Hier könnte man als Beispiele etwa die schon erwähnten Mysterien der Einsteinschen Speziellen Relativitätstheorie oder der Bohrschen Welle-Teilchen-Komplemen-tarität anführen.
Man darf aber andererseits auch nicht leugnen, daß die mathematische Methode in einer gewissen Hinsicht doch etwas Neues hervorbringt. Das ist schon vom pragmatischen Standpunkt her einzusehen, denn sonst würde man sie im praktischen Leben ja gar nicht anwenden. Am unmittelbarsten zeugen davon die technischen Anwendungen, wenn es etwa darum geht, die Konstruktionsdaten einer Maschine oder eines Bauwerks zu berechnen, nach denen diese dann gebaut werden können.
Diese Daten werden zwar als neue Erkenntnis empfunden, insbesondere wenn man auf ein bestimmtes Ergebnis nicht gefaßt ist, aber es zeigt sich auch hier die Beschränkung der Mathematik auf ihren rein analytischenCharakter: Man weiß schon vor der Berechnung, daß diese z.B. die Spannweite einer Brücke ergeben wird, man weiß nur noch nicht,wieviele Meter sie betragen wird. Aber auch dieses Ergebnis steckt schon, wenn auch zunächst unsichtbar, in den Eingabedaten. Ja und diese Daten können trotz richtiger Rechnung zu einer einsturzgefährdeten Brücke führen, wenn sie unbemerkterweise falsch waren!
Die Mathematik ist für den Physiker wie den Techniker das, was für den Archeologen der Spaten: einWerkzeug. Der Archeologe kann auch mit dem besten Spaten keine neue Entdeckung zutage fördern, wenn er an einer falschen Stelle gräbt. Max Planck bringt das Problem auf den Punkt: „Aber auch die schärfste Logik und die genaueste mathematische Rechnung können kein einziges fruchtbares Ergebnis zeitigen, wenn es an einer sicher zutreffenden Voraussetzung fehlt. Aus nichts läßt sich nichts folgern.“
Andererseits ist aber die richtig angewandte Mathematik so sicher wie eine intakte und richtig bediente Mühle: Gibt man oben Weizen-Körner hinein, so kommt unten immer Weizen-Mehl heraus, niemals etwas anderes.
Für unseren Zusammenhang ergibt sich aus dem Vorstehenden die besonders wichtige Konsequenz: Man darf nicht eine mathematische Umformung bestehender theoretischer Zusammenhänge für eine qualitativ neue (Seins-)Erkenntnis ausgeben, sie liefert nur eine quantitative Präzisierung bereits vorhandener Datenzusammenhänge. Der erkenntnis-theoretische Gehalt einer physikalischen Theorie liegt also niemals in ihrem mathematischen Apparat, sondern ausschließlich in denPrämissen, in den Vorstellungen und Annahmen, die der mathematischen Behandlung unterworfen werden.
Deshalb kann man auch nicht mit den Deutungsproblemen einer Theorie zurechtkommen, wenn man die Ursachen im mathematischen Apparat sucht. Und völlig absurd finde ich es, wenn man diesen Apparat oder schließlich sogar die Grundlagen unserer ganzen Logik auf den Kopf stellt, nur um die Fehler, die man nicht erkennt, am Leben zu erhalten. Das betrifft vor allem die Konzepte der Quantenlogik und der Renormierung. Die erstere soll dem Zweck dienen, der unverstandenen Wahrscheinlichkeits-Problematik des quantenmechanischen Meßprozesses (s. Kap. 4.1 u. 5.7) ein angepaßtes mathematisches Gewand zu geben, die letztere, um in der Atomphysik beliebig große Differenzen zwischen theoretisch berechneten und experimentell gemessenen Werten einer Größe, wenn diese „unendlich groß“ werden – ich würde doch sagen: wenn die Theorie versagt -, nach dem einfachen Schema„unendlich minus unendlich ist gleich a“ so zu reduzieren, daß ein genehmer Wert a herauskommt. Und das nicht etwa nach der für solche Fälle in der Mathematik bekannten Regel von De l’Hospital (die hier allerdings auch gar nicht anwendbar wäre, weil sie nur für mathematisch-analytische, nicht für experimentelle Zusammenhänge gilt), sondern weitgehend ad libitum. Man hat hier den Eindruck wie bei einem Bergsteiger, der vor einer unüberwindbaren Gletscherspalte steht und in seiner Verzweiflung das Problem ganz genial dadurch löst, daß er einfach jenseits der Spalte weitergeht …
Der Nobelpreisträger Dirac schrieb dazu: „ … Die Renormierungstheorie hat allen Versuchen des Mathematikers, sie fehlerfrei zu beschreiben, widerstanden. Ich möchte annehmen, daß die Renormierungstheorie etwas ist, das in der Zukunft nicht überleben wird“…
Auf etwas ganz Prinzipielles möchte ich noch hinweisen, das allerdings erst später einsichtig wird, aber hier schon mehrfach angesprochen worden ist. Es ist der erkenntnistheoretisch sterile analytische Charakter der Mathematik, mit dem eine Spannung zwischen syntaktischer undsemantischer Information, die in unserem Konzept der Ganzheit eine ganz fundamentale Rolle spielen wird, angesprochen ist: Erstere entspricht dem formalen, algorithmischen und damit dem analytischen Charakter der Mathematik, letztere der erkenntnistheoretischeninhaltlichen Bedeutung einer verbalen Aussage, die über die Möglichkeiten der Mathematik hinausgeht und mit deren Mitteln nicht synthetisch erzeugt werden kann. Ich erwähne das hier nur, um die problematische Rolle der Mathematik in der Physik, die ja Erkenntnis bringen soll, zu unterstreichen. In Kapitel 8.1 wird dies deutlich werden, insbesondere auch die schon oben zitierte Aussage von Mach, daß man die Physik als semantische Wissenschaft nicht auf Mathematik als syntaktischen Formalismus reduzieren kann. An dieser Stelle muß einstweilen dieser Hinweis genügen.
Dies alles ist keineswegs eine Kritik an der Mathematik, ganz im Gegenteil: In meinen Augen ist die Mathematik, einschließlich der Geometrie, nicht nur die exakteste aller Wissenschaften, sondern auch die schönste, deren Ästhetik sich dem erschließt, der in ihre Geheimnisse tiefer eingedrungen ist. Ihr etwaiger philosophischer Bezug zur Wirklichkeit unserer Welt kann jedoch nicht damit erzwungen werden, daß man ihr kunstvoll gewebtes Netz zerstört, wie das die modernen Physiker versuchen.
Aus dem hier Gesagten ist nun sicher auch deutlich geworden, daß in unserem in Kapitel 8 darzustellenden Kybernetischen Konzept der Ganzheit, das ja grundlegende Erkenntnisse über unsere Welt vermitteln soll, die Mathematik keine konstitutive Rolle spielen wird. Soweit ich sie dennoch bemühe, wird sie einer modellhaften Illustration der Zusammenhänge dienen.
Lesen Sie bitte hier weiter!
- 29. April 2012
- Deutschsprachige Kritik der Relativitätstheorie
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