Mit der Absicht, das Wechselspiel von Theorie und Experiment - die Methode der Physik - zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung zu machen, setzt man sich leicht dem Verdacht aus, Eulen nach Athen tragen zu wollen.
Der Physiker weiß doch wohl, wie man Experimente anlegt und experimentelle Daten mit theoretischen Konzepten in Verbindung bringt. Eine aufmerksame Betrachtung des Lehr- und Prüfungsbetriebs, sowie das Studium der gängigen Fachliteratur offenbaren jedoch eine sehr unbefriedigende Situation, die als bedenkliche wissenschafts- theoretische Selbstgenügsamkeit vieler Spezialisten charakterisiert werden kann.
Deshalb ist es kaum verwunderlich, wenn dieser Zustand den bekannten Wissenschaftstheoretiker I. LAKATOS zu der Bemerkung reizte, viele Physiker verstünden von dem wissenschaftstheoretischen Hintergrund ihrer Disziplin so viel wie die Fische von der Hydrodynamik (1). Grund genug sich mit dieser „Hydrodynamik“ immer wieder auseinanderzusetzen.
Die zitierte Metapher von LAKATOS sollte aber keine Polemik vermuten lassen. Die Absicht der folgenden Untersuchung ist eine wissenschafts-theoretisch-didaktische. Um das Wechselspiel von Theorie und Experiment wirklich verstehen zu können, sollen die entscheidenden Entwicklungslinien der Herausbildung der physikalischen Methode im historischen Kontext analysiert werden.
Damit folgen wir der These MAX JAMMERs:
„Was eigentlich Physik ist, kann nur
historisch verstanden werden“ (2).
1. Die Wurzel der physikalischen Methode
Unser physikalisches Denken ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden. Mit der Entwicklung der Methode dieses Denkens verbinden wir schlechthin GALILEI (1564-1642) und NEWTON (1642-1727). Sie gelten mit Recht als die eigentlichen Vollender eines langen, mühevollen geistigen Ringens um die methodischen Grundlagen der klassischen Physik.
Die Wurzeln dieses Prozesses reichen zurück
bis ins 6. Jahrhundert vor Christus ins klassische Griechenland. Im wesentlichen
lassen sie sich durch die Namen PLATON (428-348), ARISTOTELES (384-322)
und ARCHIMEDES (287-212) charakterisieren.
1.1 Das pythagoreisch platonische Konzept
Kennzeichnend für diese Denkrichtung
ist die Grundthese: Die Dinge sind Zahlen - der ganze Himmel ist Harmonie
und Zahl. Getragen ist diese These von der Überzeugung, daß
es möglich sei, die Natur auf ein System mathematischer Entitäten
und ihrer gegenseitigen Relationen abzubilden. Wichtiges Indiz für
dieses Konzept schien den Pythagoreern ihre Entdeckung, daß die konstanten
Intervalle Oktave, Quinte, Quarte durch die Zahlenverhältnisse 2:1,
3:2 und 4:3 entsprechender Saitenlängen dargestellt werden können.
Auch im kosmischen Bereich glaubten die Pythagoreer an die Existenz solcher
himmlischer Harmonien. In diesem Sinne brachten sie den Umlauf der Himmelskörper
mit musikalischen Akkorden in Verbindung.
Diese „Sphärenmusik“ läßt
2000 Jahre später JOHANNES KEPLER (1571-1630) in seinem Werk „Harmonices
Mundi“ wieder aufklingen. GOETHE ist von solcher Art Naturbetrachtung fasziniert.
Im Faustprolog läßt er den Erzengel Raphael verkünden:
„Die Sonne tönt nach alter Weise in Bruderssphären Wettgesang
. . .“.
In der Tradition der Pythagoreer steht PLATON. Ein wichtiger Grundgedanke seiner Naturphilosophie besteht darin, die wahrnehmbaren Dinge nur für unvollständige Bilder oder Spiegelungen idealer Formen oder Ideen zu halten (Höhlengleichnis).
Nicht die Phänomene sind das wahrhaft Seiende, sondern die sich hinter ihnen verbergenden „idealen“ mathematischen Formen.
Daher muß die Erfahrung in einer
Weise transzendiert werden, welche diese ideale mathematische Ordnung der
Erscheinungen offenbart (Abb. 1).
So stellt er den Astronomen die methodische
Forderung, in der wirren Unregelmäßigkeit der Planetenbewegungen
das mathematische System idealer gleichförmiger Kreisbewegungen aufzudecken.
Dieses Postulat hat die Entwicklung der
ganzen Astronomie von PTOLEMÄUS bis COPERNICUS und KEPLER entscheidend
beeinflußt. Dabei spielte die Unterscheidung zwischen physikalischen
Theorien über die wirkliche Struktur der Welt und den mathematischen
Hypothesen, die lediglich der „Rettung der Phänomene“ dienen, eine
wichtige Rolle. Diese Hypothesen erklären nicht, warum die Phänomene
so sind, wie sie sind; sie dienen nur der modellmäßigen Beschreibung.
Dieses Herausstellen von zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen hat
in der Entwicklung der Physik wichtige Akzente gesetzt.
In PLATONs berühmtem naturwissenschaftlichen
Dialog „Timaios“, in dem die Materie mit Hilfe von geometrischen Figuren
und mathematischen Symmetrien erklärt wird, zeigt sich die pythagoreische
Tradition des platonischen Konzeptes besonders deutlich.
Wie sehr diese platonische Wurzel auch
wesentlich GALILEIs Denken bestimmt, bringt er selbst in beredter Weise
zum Ausdruck:
„Philosophie steht in dem großen
Buch - ich meine das Universum - das stets offen vor uns liegt, aber wir
können es erst verstehen, wenn wir die Sprache und die Buchstaben
verstehen, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik
geschrieben und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische
Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort
daraus zu verstehen“ (3).
1.2 Das induktiv-deduktive Verfahren des ARISTOTELES
Das pythagoreisch-platonische Konzept,
das wahrhaft Seiende in einer idealen mathematischen Formenwelt zu suchen,
wird von ARISTOTELES radikal verworfen.
Nach seiner Auffassung können nur
die Phänomene selbst als die wahren Objekte der Naturerkenntnis angesehen
werden. Durch den Prozeß der generalisierenden Induktion (Abb.
2) werden aus den zu erklärenden Phänomenen allgemeine erklärende
Prinzipien gewonnen. Aus allgemeinen physikalischen Prämissen, die
jene Prinzipien umfassen, werden dann deduktiv naturgesetzliche Aussagen
über den Phänomenbereich hergeleitet.
Entscheidend ist bei diesem induktiv-deduktiven Verfahren, daß die erklärenden Prinzipien - im Gegensatz zu dem pythagoreisch-platonischen Konzept - nicht mathematische Entitäten, sondern den Dingen inhärente physikalische Qualitäten sind.
In diesem Sinne bestimmt die „substantielle Form des Elements“ die Art seiner „natürlichen“ Bewegung. Für einen Stein ist aufgrund seiner substantiellen Seinsweise, d.h. dem Element Erde zugehörig, die senkrechte Fallbewegung seine „natürliche“ Bewegung, während eine Wurf- oder Kreisbewegung für den Stein „erzwungene“ Bewegungen darstellen.
Uns erscheint es überraschend, daß ARISTOTELES seine deduktiven Schlüsse von den Prämissen zu den Phänomenen keiner weiteren experimentellen Überprüfung unterzieht.
Dabei stellt sich die entscheidende Frage:
Warum fehlt in der aristotelischen Methode
diese Form des Experiments? Bei GALILEI, dem eigentlichen Erfinder des
physikalischen Experiments wird deutlich, daß der ganz wesentliche
Aspekt des Experiments in der künstlichen Isolierung und Idealisierung
der komplexen Phänomene liegt. Denn nur durch diesen entscheidenden
Prozeß der Idealisierung der Phänomene wird der mathematische
Zugriff auf sie möglich. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für
die Falsifikationsmöglichkeit mathematisch formulierter Hypothesen.
Diese Künstlichkeit der Isolierung der Phänomene im Experiment
steht jedoch gerade im diametralen Gegensatz zu der Naturauffassung des
ARISTOTELES; denn er betrachtet den Kosmos ganzheitlich, gleichsam als
einen lebenden Organismus.
Die experimentelle „Sezierung der Natur“
- wie dies FRANCIS BACON, einer der Wegbereiter GALILEIs einmal treffend
genannt hat - läuft der Auffassung des ARISTOTELES völlig zuwider.
Unsere Begriffsbildung Geschwindigkeit enthält für ARISTOTELES
zwei so grundverschiedene physikalische Qualitäten wie räumliche
und zeitliche Distanz, daß ihm diese völlig künstlich und
naturwidrig erscheinen müßte.
Während GALILEI den „freien“ Fall
gerade unter Absehung von allen störenden Einflüssen der Umgebung
beobachtet, ist diese für ARISTOTELES ein integraler Bestandteil des
zu untersuchenden Phänomens.
Auch die mathematische „Sezierung“ der
Phänomene liegt außerhalb der Denksphäre der aristotelischen
Physik. Mathematische Analyse zielt in der Antike auf Vollkommenes, Unveränderliches.
Da ARISTOTELES jedoch in den Veränderungen der komplexen Phänomene
den Gegenstand der Physik sieht, sind diese essentiell einer mathematischen
Erfassung entzogen.
Dementsprechend zielt ARISTOTELES' Theorie nicht auf eine Erklärung der Phänomene durch Reduktion auf übergeordnete mathematische Strukturen.
Adäquate Erklärungen können
nur die vier Aspekte der Verursachung sein:
Causa formalis (Formalursache) -
causa materialis (Materialursache) - causa efficiens (Wirkursache)
und mit einen besonderen Stellenwert die causa finalis (Zweckursache).
1.3 Die „Künste“ des ARCHIMEDES
ARCHIMEDES, dem wir einen systematischen mathematischen Aufbau der Statik verdanken, hat mit Hebeln. Schrauben und Flaschenzügen experimentiert. Warum diese „Mechanik“ in der Antike jedoch nicht als physikalische Naturerkenntnis angesehen wurde, erkennen wir beim Studium der „Problemata mechanika“ des ARISTOTELES.
Sie beginnen mit der Feststellung:
„Verwunderung erregen natürliche
Vorgänge, wenn ihre Ursache nicht bekannt ist, und naturwidrige Vorgänge
erregen Verwunderung, wenn sie durch menschliche Kunst dem Menschen zum
Nutzen sich abspielen. . . . Wünscht man etwas gegen die Natur
zu unternehmen, . . . . so bedarf es unserer Kunst. Deshalb nennen
wir denjenigen Teil der ,Kunst’ Technik,
welcher uns bei derartigen Verlegenheiten zu Hilfe kommt, ein ,Mittel’,
eine ,List’“ (4).
Während sich die Physik mit den in der Natur „natürlich“ ablaufenden Bewegungen befaßt, ist die Mechanik (mechanische Technik) die Kunst, die Natur zu überlisten. Sie untersucht die durch künstliche Einwirkungen gegen die Natur ablaufenden Vorgänge. Entscheidend ist nun, daß zur Untersuchung der künstlichen, unnatürlichen Vorgänge, welche nicht von der Natur selbst, sondern von Maschinen hervorgebracht werden, hier die Mathematik als legitimes und geeignetes Hilfsmittel angesehen wird, die Einzelvorgänge aus übergeordneten theoretischen Prinzipien zu deduzieren.
Obwohl man seit ARCHIMEDES über die experimentellen Möglichkeiten und mathematischen Hilfsmittel verfügt, kam es nicht zur Ausbildung einer physikalischen Methode in unserem Sinne, weil man sich von dem aristotelischen Dogma der prinzipiellen Unterscheidung von Physik und Technik nicht lösen konnte.
Deshalb blieb der Antike trotz genialer
Leistungen des ARCHIMEDES im Bereich der Statik und der technischen Anwendung
die erkenntnistheoretische Funktion des Experiments im physikalischen Erkenntnisprozeß
verschlossen. Erst indem GALILEI sich in der Auseinandersetzung mit der
aristotelischen Naturphilosophie von deren metaphysischen Hintergrundüberzeugungen
langsam löste, wurde ihm die methodische Bedeutung des Experiments
immer deutlicher.
2. Methodische Konzepte der klassischen Physik
2.1 GALILEIs „metodo compositivo“
GALILEI vollzieht die ideengeschichtlich
bedeutsame Synthese zwischen PLATON, ARISTOTELES und ARCHIMEDES. Es sei
jedoch bemerkt, daß der Boden für diesen entscheidenden Prozeß
im naturwissenschaftlichen Denken seit dem 14. Jahrhundert durch eine Reihe
von „Vorläufer“, besonders ORESME vorbereitet war. Mit ARISTOTELES
ist GALILEI davon überzeugt, daß die Erforschung der
Natur mit der Sinneserfahrung beginnt
(Abb. 3),
Deshalb machen ihn Vertreter eines naiven Positivismus gern zum Kronzeugen einer „rein induktiven Methode“, mit der er die theoretischen Spekulationen der aristotelischen Naturphilosophie den Todesstoß versetzt haben soll, Die Legende will, daß er das Fallgesetz „rein experimentell“ aus gemessenen Wegstrecken und den korrespondierenden Zeitintervallen bei Fallversuchen am schiefen Turm zu Pisa gefunden haben Soll, Diese Mär ist eine völlige Verdrehung der tatsächlichen Methode GALILEIs, die erstaunlicherweise auch heute noch kolportiert wird.
Hören wir GALILEI selbst, was er im Zusammenhang mit seinen Versuchen an der schiefen Ebene über die Rolle des Experiments in seinem methodischen Konzept sagt:
„Ich habe ein Experiment darüber angestellt, aber zuvor hatte die natürliche Vernunft mich ganz fest davon überzeugt, daß die Erscheinung so verlaufen mußte, wie sie tatsächlich verlaufen ist“ (3).
Hier ist deutlich gesagt, warum GALILEI
experimentiert: Das im platonischen Ansatz wurzelnde theoretische Konzept
wird im Experiment getestet.
GALILEI erklärt:
„Ich will mich im Experiment davon
überzeugen, daß die beim natürlichen Fallen auftretenden
Beschleunigungen mit den vorher (durch die Theorie) beschriebenen übereinstimmen“
(5).
Während bei PLATON die mathematischen
Ideen ein nur durch reines Denken sich erschließendes Dasein in einer
übersinnlichen Welt außerhalb von Raum und Zeit führen,
werden sie bei GALILEI mit den Phänomenen konfrontiert und getestet.
Dies ist jedoch erst möglich, wenn man in einem abstrahierenden Idealisierungsprozeß
den „reinen Fall“ oder das abstrakte Phänomen aus der komplexen Vielfalt
der Naturphänomene herausisoliert; denn nur bei einem solchen idealisierten
Fall ist die Mathematisierung möglich und im experimentellen Test
überprüfbar.
Beim Idealisierungsprozeß kommt
es darauf an, die - wie GALILEI sagt - „am besten passenden Begriffe und
Definitionen“ zu finden. Wie diese Anpassung der mathematischen Abstrakta
an die Naturphänomene geschieht, verrät uns GALILEI selbst:
„Bei der Untersuchung der natürlichen beschleunigten Bewegung ließen wir uns von den Gewohnheiten der Natur selbst leiten, die uns in all ihren verschiedenen Prozessen lehrt, nur die allgemeinsten, einfachsten und leichtesten Mittel anzuwenden“ (5) .
Die mathematische Beschreibung der Naturphänomene, die dem aristotelischen Konzept zuwiderlief, wird jetzt bei GALILEI möglich, weil er die für die Entwicklung der physikalischen Methode so folgenschwere Trennung zwischen Physik und Technik der Antike aufhebt. In seiner Schrift „Le mecaniche“ fällt die prinzipielle Unterscheidung von technischen, „künstlichen“ und „natürlichen“ physikalischen Bewegungen.
In der Antike ist das Experiment nur in
der Statik des ARCHIMEDES ein legitimes methodisches Element. Erst nach
Aufhebung der kategorialen Trennung von Physik und Technik wird
durch diesen bedeutsamen Paradigmawechsel das Experiment nun auch zu einem
essentiellen Bestandteil der Methode der klassischen Physik.
Hervorzuheben ist, daß die Mathematisierung
nun nicht mehr wie bei ARCHIMEDES ein ontologisch neutrales Hilfsmittel
ist, sondern im Sinne der pythagoreisch-platonischen Tradition in die Seinsweise
der Phänomene hineinprojiziert wird.
2.2 NEWTONs axiomatische Methode
Die Methode NEWTONs besteht aus drei wesentlichen
operativen Schritten (Abb. 4).
Der erste Schritt betrifft die
Aufstellung der „Principia mathematica“ (6).
Da die Definitionen, Axiome und Theoreme
nicht wie in der Mathematik nur rein logisch, sondern im Prozeß einer
intuitiv geleiteten Abstraktion an den Phänomenen abgelesen werden,
sollte man sie besser „physikalische Prinzipien“ nennen.
NEWTON unterscheidet zwischen den „absoluten Größen“, den Abstrakta, und den „wahrnehmbaren Maßen“, die in den Phänomenen zu suchen sind.
Der zweite und wichtigste Schritt
der Methode NEWTONs besteht in der Aufstellung von Korrespondenzregeln
(semantischen Zuordnungsregeln), die den theoretischen Termen und Sätzen
des mathematischen Systems und den korrespondierenden Beobachtungsstücken
einen physikalischen Sinn verleihen. Sie haben einen semantischen und ontologischen
Gehalt. NEWTON geht davon aus, daß dann mittels einer intuitiv erratenen
theoretischen Struktur empirische Sachverhalte abgebildet werden können.
Dies geschieht durch Aufzeigen von experimentellen Operationen, die damit
auch zugleich ein prinzipielles Meßverfahren der physikalischen Größen
definieren.
Der dritte Schritt in NEWTONS Methode ist auf die Prüfung der
deduktiven Folgerungen aus den Sätzen des durch Intuition empirisch
inspirierten Axiomensystems im Experiment gerichtet. So hat z.B. NEWTON
zur Prüfung seines III. Axioms Experimente mit zusammenstoßenden
Pendeln aus verschiedenen Materialien durchgeführt. Das I. und II.
Axiom sah NEWTON durch Beobachtungsdaten unseres Planetensystems bestätigt,
z.B. durch seine berühmte Mondrechnung.
Wie steht es mit NEWTONs stolzer Behauptung: „Hypotheses non fingo“? Es ist die Behauptung, er komme bei seiner axiomatischen Methode ohne metaphysische Hintergrundüberzeugungen aus. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. NEWTONS „absoluter Raum“, den er als „Sensorium Gottes“ bezeichnet, zeigt besonders deutlich, wie wenig NEWTON seinen methodischen Vorsatz, „okkulte Qualitäten“ aus der Physik zu verbannen, wirklich treu geblieben ist.
Wir werden später noch genauer darauf
eingehen, daß eine physikalische Methode ohne außerlogische
und außerphysikalische Setzungen, d.h. wissenschaftliche Vorurteile
gar nicht möglich ist. Als „Themata“ (HOLTON) von „Forschungsprogrammen“
(LAKATOS) sind sie geradezu notwendig.
2.3 Kritik an der Methode der klassischen Physik
Das in den „Principia“ (1686) realisierte methodische Konzept wurde das Fundament, auf dem in den folgenden zwei Jahrhunderten das Gebäude der klassischen Physik errichtet wurde. Aber es meldete sich auch Kritik gegen dieses mechanistische Weltbild an.
Der französische Philosoph und Herausgeber der großen Enzyklopädie DIDEROT wandte sich gegen die Unzulänglichkeiten eines mechanistischen Erklärungsversuches der Welt und ERNST MACH kritisierte „das Pleonastische, Tautologische und Äbundante“ des NEWTONschen Konzeptes.
Ebenso unterzog der französische Physiker
und Wissenschaftstheoretiker PIERRE DUHEM in seinem 1908 erschienenen Werk
„Ziel und Struktur der physikalischen Theorien“ die Methode NEWTON s einer
sehr kritischen Analyse. Auf zwei Punkte soll etwas näher eingegangen
werden.
2.3.1 Die generalisierende Induktion
NEWTONs Vorgehen erweckte den Anschein,
er habe durch „generalisierende Induktion“ aus den drei KEPLERschen Gesetzen
das Prinzip der allgemeinen Gravitation gefunden. Die KEPLERschen Gesetze
sind kinematische Gesetze, in denen Kräfte und Massen nicht in dem
Zusammenhang wie im Gravitationsgesetz vorkommen.
DUHEM bemerkt dazu:
„Das Prinzip der allgemeinen Gravitation
kann daher keineswegs durch Generalisation und Induktion aus den Beobachtungsdaten,
die KEPLER formuliert hatte, abgeleitet werden; es widerspricht vielmehr
in aller Form diesen Gesetzen. Wenn die Theorie von NEWTON richtig ist,
sind die KEPLERschen Gesetze notwendigerweise falsch“ (7).
Weiterhin sei betont, daß die KEPLERschen
Gesetze keineswegs einfach „Beobachtungsdaten“ sind. Geleitet von metaphysischen
Hintergrundsüberzeugungen hat KEPLER sie durch unlogische Handhabung
seiner „Hypothesis vicaria“ (Ersatzhypothese) und problematischen ad-hoc-Annahmen
in nichtlogischer Weise gegen jede wissenschaftstheoretische Vernunft in
geradezu „nachtwandlerischer Weise“ gefunden.
2.3.2 Das „Experimentum crucis“
Der dritte Schritt in NEWTONs Methode betrifft die Möglichkeit, durch ein Experiment eine Entscheidung zwischen zwei sich widersprechenden oder konkurrierenden theoretischen Konzepten herbeizuführen. Auch hier hat DUHEM gezeigt, daß eine solches „Experimentum crucis“ prinzipiell nicht möglich ist.
Im 19. Jahrhundert, und z. T. auch heute noch, wurde weithin angenommen, FOUCAULTs Experiment, in dem festgestellt wurde, daß die Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser ist, sei ein solches „Experimentum crucis“, das zwischen der Korpuskulartheorie des Lichtes von NEWTON und der Wellentheorie von HUYGENS entscheiden könne. Man glaubte dieses Experiment als Rechtfertigung der Wellentheorie ansehen zu können.
Ist es dies wirklich?
Die Vorhersage der Korpuskulartheorie,
daß die Lichtgeschwindigkeit im Wasser größer als in Luft
ist, basiert auf einer ganzen Gruppe von Hypothesen, wobei die Emissions-Hypothese,
welche das Licht als Teilchenstrom interpretiert, nur eine Prämisse
darstellt. Daneben stehen Hypothesen über die Wechselwirkung der Lichtkorpuskel
mit verschiedenen Medien. Analog werden in der Wellentheorie Hypothesen
über die Ausbreitung von Wellen in verschiedenen Medien postuliert,
die sich wieder auf eine Menge von Annahmen stützen, welche dann nach
einer langen Argumentationskette die Aussage implizieren, daß die
Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser sein sollte.
Wenn man also die Wahrheit der Hilfshypothesen
voraussetzt, kann man aus dem Ausfall des FOUCAULT-Experimentes daher nur
den Schluß ziehen, daß nicht sämtliche Hypothesen der
Korpuskeltheorie richtig sind. Mindestens eine muß falsch sein. Aber
das FOUCAULT-Experiment sagt nichts darüber aus, welche es ist.
DUHEM kommt daher zu dem Schluß, „daß der Physiker niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe von Hypothesen der Kontrolle des Experiments unterwerfen kann“.
Geradezu prophetisch liest sich seine Feststellung:
„Licht kann ein Schwarm von Projektilen,
es kann eine Schwingungsbewegung sein, ist es ihm deshalb verboten, irgend
etwas beliebig Anderes zu sein?“ (7).
Der Photoeffekt zeigt jenes „Dritte“, wie
FEYNMAN einmal treffend die Situation charakterisiert hat. Aber
auch der Photoeffekt ist kein „Experimentum crucis“ nun gegen die Wellentheorie
des Lichtes. Er deutet lediglich darauf
hin, daß im System der Grundannahmen der klassischen Wellentheorie
ganz bestimmte Modifikationen notwendig sind, die ja dann auch in der Tat
im Rahmen der Quantenelektrodynamik durch Quantisierung der Feldgrößen
vorgenommen wurde.
TH. KUHN vertritt die These, daß
grundsätzlich Experimente nicht eigentlich der Überprüfung
einer Theorie dienen, sondern die Übereinstimmung von Theorie und
Beobachtung ein Kriterium für die Angemessenheit und Güte der
verwendeten experimentellen Techniken und Instrumente sei (8).
3. Wissenschaftstheoretische Aspekte der modernen Physik
3.1 EINSTEINs erkenntnistheoretischer
Imperativ
„EJASE-Prozeß“ der Theorienkonstruktion
EINSTEIN hat seine Methode charakterisiert als den „Versuch, die chaotische Vielfalt unserer Sinneserfahrungen in ein logisch einheitliches Gedankensystem einzubauen“. Die einzelnen Erfahrungen müssen mit der theoretischen Struktur des Gedankensystems so in Beziehung gesetzt werden, daß das Ergebnis eindeutig und pragmatisch überzeugend ist. Diesen Prozeß hat er in einem Brief an seinen Freund SOLOVINE schematisch dargestellt (9).
In dem Schema (Abb. 5) ist die Mannigfaltigkeit der unmittelbaren sinnlichen Erlebnisse durch die Linie E symbolisiert. A bedeutet das System der Axiome und S die gefolgerten Sätze. Besondere Bedeutung kommt dem gebogenen Pfeil J (engl. „Jump“ = Sprung) zu, der den Zusammenhang zwischen der Erfahrungswelt und dem Axiomensystem darstellen soll. EINSTEIN stellt heraus, daß es nicht möglich ist, durch generalisierende Induktion von E nach A zu gelangen, wie die Empiristen glaubten.
EINSTEIN weist darauf hin:
„Psychologisch beruhen die A
auf E. Es gibt aber keinen logischen Weg von E nach A,
sondern nur einen intuitiven (psychologischen) Zusammenhang, der immer
auf Widerruf ist“ (10).
Diesen Sachverhalt nennt er den ersten logischen Sprung. Der zweite logische Sprung betrifft die Begriffe untereinander bei der Formulierung des Axiomensystems. Nicht nur die Begriffe selbst, sondern das ganze Begriffssystem ist eine freie Schöpfung des Menschen, dessen Rechtfertigung nur im pragmatischen Erfolg des Gesamtsystems liegt, und zwar „in dem Maße der Übersicht über die Sinneserlebnisse, die wir mit seiner Hilfe erreichen können“. Auch zu den elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern „nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition“.
In diesem Zusammenhang hat EINSTEIN bemerkt:
„Hätte FARADAY das Induktionsgesetz
entdeckt, wenn er eine reguläre Universitätsausbildung gehabt
hätte?“
Nach EINSTEIN gibt es für die Erstellung
des Axiomensystems „keinerlei erlernbare systematisch anwendbare Methode,
die zum Ziel führt. Der Forscher muß vielmehr der Natur jene
allgemeinen Prinzipien einfach ablauschen“.
In Ermangelung eines logischen Weges muß
der Forscher bei seinem intuitiven Vorgehen sich an allgemeinen Symmetrie-Prinzipien
und Ideen der formalen Einfachheit und der Sparsamkeit der Begriffe
in Bezug auf logisch unabhängige Elemente orientieren; d.h. die irreduziblen
Grundelemente des Systems so gering und so einfach wie möglich zu
halten. Die aus dem Axiomensystem gefolgerten Sätze müssen an
der Erfahrung geprüft werden.
Dazu bemerkt EINSTEIN:
„Die Prozedur gehört genau betrachtet
der extralogischen (intuitiven) Sphäre an, weil die Beziehungen der
in den S auftretenden Begriffe zu den Erlebnissen E nicht
logischer Natur sind“ (10).
(Vermutlich hat EINSTEIN deshalb auch die
von S nach unten ausgehenden Pfeile punktiert gezeichnet.)
EINSTEINS Kritiker haben ihm vorgeworfen, die Rolle der Intuition im physikalischen Erkenntnisprozeß überbetont zu haben. Dazu ist festzustellen, daß das intuitive Vorgehen - wie EINSTEIN selbst sagt - „immer auf Widerruf“ geschieht, indem die schöpferische Phantasie sich regulativen Prinzipien unterwirft.
Die im Diagramm (Abb. 5) dargestellte Methode ist nämlich kamt statische Situation, sondern als zyklischer Prozeß zu interpretieren, der von E über J nach A zu S und dann wieder zurück nach E verläuft. Dieser in vielen Zyklen immer wieder durchlaufene EJASE-Prozeß garantiert eine immer bessere Passung oder Adaption des theoretischen Konzeptes an die Erfahrungstatsachen und damit eine ständige Approximation der Ideen an die Wirklichkeit. Dieser Adaptionsprozeß kann sich subjektiv bei dem einzelnen Forscher vollziehen aber auch als historischen Prozeß verstanden werden. Dabei fällt dem Experiment nicht die Rolle zu, eine Theorie durch einen punktuellen empirischen Test zu verifizieren. So hat z.B. das MICHELSON-MORLEY-Experiment für EINSTEIN bei der Entwicklung seiner Theorie keine entscheidende Rolle gespielt. Eine Theorie kann dann akzeptiert werden, wenn sie permanenten Falsifikationsversuchen, die sich auch des Experiments bedienen, widersteht.
In diesem Sinne rechtfertigt das Aufzeigen empirischer Adäquatheit, d.h. der pragmatische Erfolg, den EJASE-Prozeß. Geleitet wird dieser - wie EINSTEIN immer betont hat - „extralogisch“ von „außerwissenschaftlichen Vorurteilen“.
Diese Feststellung hat grundsätzliche
Bedeutung. Bei GALILEI hatten wir bereits darauf hingewiesen. G. HOLTON
nennt diese metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen „Themata“
(11).
Sie wirken beim „J-Prozeß“
als einschränkende Ideen-Filter. Solche außerphysikalischen,
quasi-theologischen Hintergrundsüberzeugungen haben besonders bei
COPERNICUS und KEPLER, aber eigentlich bei allen großen Forschern
eine wichtige stimulierende Wirkung ausgeübt. Aus der pythagoreisch-platonischen
Wurzel sind immer wieder neue Triebe gewachsen.
3.2 Der Meßprozeß in der Quantenphysik
In der klassischen Physik konnte man davon ausgehen, daß die Wechselwirkung der Meßvorrichtung mit dem Beobachtungsobjekt vernachlässigbar ist.
Wegen der Unbestimmtheitsrelation ist dies in der Quantenphysik prinzipiell nicht möglich. Nach ihr sind z. B. Orts und Impulsmessungen einander ausschließende Meßverfahren. Ist ein Mikroobjekt scharf lokalisiert (Ortsmessung), so ist sein Impuls völlig unbestimmt. Dies kann auch durch eine sofort erfolgende Impulsmessung nicht kompensiert werden, weil dabei die Lokalisierung aufgehoben und damit die gewonnene Kenntnis des Ortes wieder verloren geht. Dies führt dazu, daß quantenmechanisch auch bei vollständiger Kenntnis eines Systemzustandes über die Ergebnisse einer Messung nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können.
Nach der Kopenhagener Interpretation besteht eine unaufhebbare Verknüpfung zwischen der Meßapparatur und dem Mikrosystem. Beide zusammen stellen das Quantenphänomen dar. Die psi-Funktion beschreibt nicht mehr die Wirklichkeit an sich, sondern die durch den Experimentator im Meßprozeß aktualisierte Wechselwirkung des Mikrosystems mit der Meßvorrichtung. In diesem Sinne konstituiert die Kenntnisnahme des Beobachters die „faktische Realität“ des Mikroobjektes.
Nach der Kopenhagener Interpretation vermittelt Physik nicht mehr ein Bild der Natur, sondern ein Bild unserer Kenntnis über die Natur. Ort und Impuls eines Mikroobjektes existieren nicht unabhängig von der Beobachtung, sondern erst im Meßprozeß werden sie existent. Daher ist es nicht mehr ohne weiteres möglich, dem Mikroobjekt selbst eine physikalische Eigenschaft zuzuschreiben. Im Gegensatz zu den Objekten der klassischen Physik, kann man Mikroobjekte nun nicht mehr als autonome Elemente der Wirklichkeit ansehen.
Nach HEISENBERG vollzieht sich im Meßprozeß
der Übergang vom Möglichen zum Faktischen. Im Formalismus der
Quantenmechanik beschreibt man diesen Übergang als „Reduktion des
Wellenpaketes“.
Die Kopenhagener Interpretation impliziert:
Sein ist gemessen werden. Während
ARISTOTELES die „ordo essendi“ vor die „ordo cognoscendi“ setzte, kehrt
die Kopenhagener Interpretation dieses erkenntnistheoretische Konzept gerade
um. Diese Position wird von den realistischen
Kritikern der Kopenhagener Interpretation nicht akzeptiert.
Gerade in den letzten Jahren wurde im Zusammenhang
mit dem Problem der verborgenen Parameter und dem EINSTEIN-ROSEN-PODOLSKY-Paradoxon
die Kritik wieder verstärkt aufgenommen. Sehr interessant scheint
der Ansatz von BOHM, welcher die psi-Funktion als reales Feld deutet,
das auf das Mikroobjekt Kräfte ausübt.
Zwischen BOHMs Ansatz, der bei seiner Theorienkonstruktion
beim J-Prozeß ein anderes „thematisches Filter“ als die der Kopenhagener
Interpretation anhängende Physiker benutzt, und der statistischen
Deutung der psi-Funktion ist durch ein „Experimentum crucis“ keine
Entscheidung herbeizuführen.
3.3 Objektive Erkenntnis - physikalische Wirklichkeit
PIERRE DUHEM hat in seiner Untersuchung
über „Ziel und Struktur physikalischer Theorien“ deutlich herausgestellt,
daß Theorien die Wirklichkeit nicht wörtlich oder vollständig,
sondern immer nur unvollständig und symbolisch abbilden. Es gibt auch
keinen eindeutigen logischen Weg von empirischen Daten zur Theorie.
Die gleichen Fakten können durch
verschiedene theoretische Konzepte adäquat dargestellt werden (vgl.
2.3.2 „Experimentum crucis“).
Theorien sind begriffliche Modelle, die
auf reale Systeme zielen. Sie können die Phänomene nur dann erklären,
wenn sie abstrakte begriffliche Elemente enthalten, die wesentlich über
die bloße Beobachtung hinausgehen. So ist z.B. der zentrale Begriff
der MAXWELL-Theorie des „Verschiebungsstromes“ nicht aus der Beobachtung
zu gewinnen. Das gleiche gilt für die Begriffe der Feldstärken
und Potentiale.
Die These von P. K. FEYERABEND, Erfahrungswissen
werde immer erst durch die Theorie erzeugt, ist jedoch überzogen.
Die empirischen Daten TYCHO BRAHEs waren
die Basis für KEPLERs theoretische Arbeiten und Beobachtungsmaterial
der Spektroskopie ging der Atomtheorie voraus. DAVISSON und GERMER beobachteten
Elektronenbeugung vor Bekanntwerden der Theorie DE BROGLIEs.
Wenden wir uns nun der entscheidenden Frage
zu:
Wie und in welchem Sinne bildet eine
physikalische Theorie einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit ab?
Diese Frage ist zu verschiedenen Zeiten und
vor verschiedenen philosophischen Hintergrundüberzeugungen ganz unterschiedlich
beantwortet worden (Abb. 6).
2. Operationalistisch:
Vorschriften, wie deskriptive Terme der
Theorie
gemessen werden. Messung (= Realität).
3. Instrumentalistisch:
Theorie hat nur syntaktische Funktion.
Formaler
Umsetzungsmechanismus von empirischen
Daten.
Bezug zur Realität ist ausgeklammert.
4. Realistisch:
Theorie <====> Modell <====> Wirklichkeit.
Prüfung der empirischen Adäquatheit
Die phänomenologische Auffassung deutet Theorien als Instrument zur denkökonomischen Beschreibung der Sinneswahrnehmungen. Dies ist die Auffassung des Positivismus MACHscher Prägung. Die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik basiert auf einer operationalistischen Theorie-Deutung.
Ihre Beziehung zur Wirklichkeit läßt sich am kürzesten durch die These charakterisieren: Sein ist gemessen werden. In einer instrumentalistischen Deutung einer Theorie kommt dieser nur eine syntaktische Funktion zu. Theoretische Terme werden durch Reduktionsverfahren auf Beobachtungsbegriffe zurückgeführt. Dabei wird der Realitätsbezug ausgeklammert.
Vertreter des logischen Empirismus haben sich diese erkenntnis-theoretische Position weitgehend zu eigen gemacht.
Der kritische Realismus dagegen geht davon
aus, daß die Theorie essentiell über die Erfahrung hinausgeht,
d. h. u.a., daß die Referenzmenge einer Theorie größer
ist als die Evidenzmenge. Dabei bildet die Theorie die Wirklichkeit - wie
M. BUNGE es formuliert -nicht „porträtmäßig oder ikonisch“
ab, sondern sie versucht, die „Subjektivität zu transzendieren“ (BUNGE),
um so reale Kontakte zur Wirklichkeit herzustellen.
Anzumerken ist, daß der objektive Charakter der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis neuerlich durch die evolutionäre Erkenntnistheorie (LORENZ
(12), VOLLMER (13)) eine starke Stütze erhält. Aufgrund des Selektionsdrucks
ist es nach dieser Theorie nicht möglich, daß unser Erkenntnisapparat
- ein Ergebnis der Evolution -uns keine richtigen Informationen über
die Wirklichkeitsstrukturen liefert. Motor und Katalysator der Theoriendynamik
sind die in allen Forschungsprogrammen wirksamen metaphysischen Hintergrundüberzeugungen.
Während der logische Empirismus metaphysische Ideen völlig auszuklammern versucht, sehen wir heute in ihnen ein sehr wesentliches Element der Theoriendynamik. Diese Einsicht ist eine der interessantesten Entwicklungen der modernen Wissenschaftstheorie.
Sie bedeutet aber keineswegs die Wiederauferstehung
einer Irrationalisierung. Die metaphysischen Deutungsschemata werden im
Rahmen der Theorien-Validierung in rationaler Weise diskutiert. Ihre Rechtfertigung
können sie jedoch nicht nur logisch sondern auch durch eine „Art historische
Vernunft“ erfahren (14).
4. Der Teil und das Ganze
Wir haben versucht, den physikalischen Erkenntnisprozeß aufzuzeigen.
Die Ambivalenz der physikalischen Methode prägt die krisenhafte geistige Situation unserer Zeit, die von der Entfremdung des Menschen von der Natur gezeichnet ist.
Kein geringerer als GOETHE hat in seiner Farbenlehre NEWTON den Vorwurf gemacht, mit seiner Methode eine „Zwingburg“ errichtet zu haben, die „aller reinen Forschung den Weg versperrt“. Die Experimente, bei denen NEWTON das Licht durch Spalte und Linsen „quält“, verabscheut GOETHE, weil sie über die wahre Natur des Lichtes nichts aussagten.
Der englische Physiker EDDINGTON charakterisiert
die Methode der Physik als „experimentelle Sezierung der Natur“ so:
„Wie erinnerlich dehnte und hackte
PROKRUSTES seine Gäste zurecht, damit sie in das Bett paßten,
das er gebaut hatte. Aber vielleicht ist das Ende der Geschichte nicht
bekannt. Er maß sie, ehe sie am folgenden Morgen weggingen, und schrieb
eine gelehrte Abhandlung über die gleichbleibende Länge der Reisenden
für die Antropologische Gesellschaft von Attika“.
Indem wir die Phänomene analysieren,
müssen wir sie notwendigerweise in ihre Teile „zerhacken“.Ansätze
von PRIGOGINEs Thermodynamik offener Systeme und der von HAKEN entwickelten
Synergetik zeigen wichtige Perspektiven einer neuerlichen Synthese zum
Ganzen.
Die Betrachtung von sich selbstorganisierenden Systemen scheint uns methodisch wieder der Konzeption ARISTOTELES näher zu bringen, die den Kosmos nicht als Maschine, sondern als zusammenhängenden Organismus ansieht. Nicht nur die Analyse der Teile sondern auch die Synthese zum Ganzen muß die Methode der Physik leiten. Durch solches „hermeneutisches Verstehen“ könnte sich ein neuer Dialog mit der Natur entwickeln und ein entsprechendes Verhältnis des Menschen zur Natur und Kultur eröffnen.
Schon vor zwanzig Jahren hat MAX VON LAUE
die Physiker darauf verwiesen, daß die Physik ihre „eigentliche Würde“
nur daher beziehen kann, daß sie „ein wesentliches Hilfsmittel
der Philosophie abgibt . . . . So und nur so ist gegenüber der unaufhaltsam
fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften die Einheit der wissenschaftlichen
Kultur zu wahren, jene Einheit, ohne welche die ganze Kultur dem Zerfall
geweiht wäre“ (15).
Literatur:
(1) LAKATOS, I.: Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, Braunschweig, 1978.
(2) JAMMER, M.: Der Begriff der Masse, Darmstadt, 1964.
(3) GALILEI, G.: Le Opere, VI. Edizione Nationale, Firenze, 1890-1909.
(4) KRAFFT, F.: Das Selbstverständnis der Physik im Wandel der Zeit, Weinheim, 1982.
(5) GALILEI, G.: Le Opere, VI.
(6) NEWTON, I.: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Berlin 1872 und Darmstadt, 1963.
(7) DUHEM, P.: Ziel und Struktur der physikalischen Theorie, Leipzig 1908 und Hamburg, 1976.
(8) KUHN, TH.: The Function of Measurement in Modern Physical Science, in Woolf, H.: Quantification: A History of the Meaning of Measurement in the Natural and Social Science, Indianapolis, 1961.
(9) HOLTON, G.: Einsteins Methoden zur Theorienbildung in Albert Einstein, Sein Einfluß auf Physik, Philosophie und Politik (Herausgeber): P. C. Aichelburg und R. U. Sexl, Braunschweig, 1979.
(10) Brief EINSTEINs an SOLOVINE, zitiert nach G. HOLTON (9).
(11) HOLTON, G.: Thematische Analysen der Wissenschaft, Frankfurt, 1981.
(12) LORENZ, K.: Die Rückseite des Spiegels, München, 1973.
(13) VOLLMER: Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart, 1982.
(14) HÜBNER, K.: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg / München, 1979.
(15) LAUE, M. v.: Gesammelte Schriften
und Vorträge, Band 3, Braunschweig, 1981.