Das Wechselspiel von Theorie und Experiment
im physikalischen Erkenntnisprozeß
 
Wilfried Kuhn
Institut für Didaktik der Physik der Universität Gießen
 

Quelle:
KUHN, W. (1983): Das Wechselspiel von Theorie und Experiment im physikalischen Erkenntnisprozeß, DPG-Didaktik-Tagungsband 1983, S. 416 - 438.
Hrsg.: Scharmann, Hofstaetter und Kuhn, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Mit der Absicht, das Wechselspiel von Theorie und Experiment - die Methode der Physik - zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung zu machen, setzt man sich leicht dem Verdacht aus, Eulen nach Athen tragen zu wollen.

Der Physiker weiß doch wohl, wie man Experimente anlegt und experimentelle Daten mit theoretischen Konzepten in Verbindung bringt. Eine aufmerksame Betrachtung des Lehr- und Prüfungsbetriebs, sowie das Studium der gängigen Fachliteratur offenbaren jedoch eine sehr unbefriedigende Situation, die als bedenkliche wissenschafts- theoretische Selbstgenügsamkeit vieler Spezialisten charakterisiert werden kann.

Deshalb ist es kaum verwunderlich, wenn dieser Zustand den bekannten Wissenschaftstheoretiker I. LAKATOS zu der Bemerkung reizte, viele Physiker verstünden von dem wissenschaftstheoretischen Hintergrund ihrer Disziplin so viel wie die Fische von der Hydrodynamik (1). Grund genug sich mit dieser „Hydrodynamik“ immer wieder auseinanderzusetzen.

Die zitierte Metapher von LAKATOS sollte aber keine Polemik vermuten lassen. Die Absicht der folgenden Untersuchung ist eine wissenschafts-theoretisch-didaktische. Um das Wechselspiel von Theorie und Experiment wirklich verstehen zu können, sollen die entscheidenden Entwicklungslinien der Herausbildung der physikalischen Methode im historischen Kontext analysiert werden.

Damit folgen wir der These MAX JAMMERs:
„Was eigentlich Physik ist, kann nur historisch verstanden werden“ (2).
 

1. Die Wurzel der physikalischen Methode

Unser physikalisches Denken ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden. Mit der Entwicklung der Methode dieses Denkens verbinden wir schlechthin GALILEI (1564-1642) und NEWTON (1642-1727). Sie gelten mit Recht als die eigentlichen Vollender eines langen, mühevollen geistigen Ringens um die methodischen Grundlagen der klassischen Physik.

Die Wurzeln dieses Prozesses reichen zurück bis ins 6. Jahrhundert vor Christus ins klassische Griechenland. Im wesentlichen lassen sie sich durch die Namen PLATON (428-348), ARISTOTELES (384-322) und ARCHIMEDES (287-212) charakterisieren.
 

1.1 Das pythagoreisch platonische Konzept

Kennzeichnend für diese Denkrichtung ist die Grundthese: Die Dinge sind Zahlen - der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl. Getragen ist diese These von der Überzeugung, daß es möglich sei, die Natur auf ein System mathematischer Entitäten und ihrer gegenseitigen Relationen abzubilden. Wichtiges Indiz für dieses Konzept schien den Pythagoreern ihre Entdeckung, daß die konstanten Intervalle Oktave, Quinte, Quarte durch die Zahlenverhältnisse 2:1, 3:2 und 4:3 entsprechender Saitenlängen dargestellt werden können. Auch im kosmischen Bereich glaubten die Pythagoreer an die Existenz solcher himmlischer Harmonien. In diesem Sinne brachten sie den Umlauf der Himmelskörper mit musikalischen Akkorden in Verbindung.
 

Diese „Sphärenmusik“ läßt 2000 Jahre später JOHANNES KEPLER (1571-1630) in seinem Werk „Harmonices Mundi“ wieder aufklingen. GOETHE ist von solcher Art Naturbetrachtung fasziniert. Im Faustprolog läßt er den Erzengel Raphael verkünden: „Die Sonne tönt nach alter Weise in Bruderssphären Wettgesang . . .“.
 

In der Tradition der Pythagoreer steht PLATON. Ein wichtiger Grundgedanke seiner Naturphilosophie besteht darin, die wahrnehmbaren Dinge nur für unvollständige Bilder oder Spiegelungen idealer Formen oder Ideen zu halten (Höhlengleichnis).

Nicht die Phänomene sind das wahrhaft Seiende, sondern die sich hinter ihnen verbergenden „idealen“ mathematischen Formen.

Daher muß die Erfahrung in einer Weise transzendiert werden, welche diese ideale mathematische Ordnung der Erscheinungen offenbart (Abb. 1).
 

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Abb. 1: Der pythagoreisch-platonische Ansatz

So stellt er den Astronomen die methodische Forderung, in der wirren Unregelmäßigkeit der Planetenbewegungen das mathematische System idealer gleichförmiger Kreisbewegungen aufzudecken.
Dieses Postulat hat die Entwicklung der ganzen Astronomie von PTOLEMÄUS bis COPERNICUS und KEPLER entscheidend beeinflußt. Dabei spielte die Unterscheidung zwischen physikalischen Theorien über die wirkliche Struktur der Welt und den mathematischen Hypothesen, die lediglich der „Rettung der Phänomene“ dienen, eine wichtige Rolle. Diese Hypothesen erklären nicht, warum die Phänomene so sind, wie sie sind; sie dienen nur der modellmäßigen Beschreibung. Dieses Herausstellen von zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen hat in der Entwicklung der Physik wichtige Akzente gesetzt.
In PLATONs berühmtem naturwissenschaftlichen Dialog „Timaios“, in dem die Materie mit Hilfe von geometrischen Figuren und mathematischen Symmetrien erklärt wird, zeigt sich die pythagoreische Tradition des platonischen Konzeptes besonders deutlich.
Wie sehr diese platonische Wurzel auch wesentlich GALILEIs Denken bestimmt, bringt er selbst in beredter Weise zum Ausdruck:

„Philosophie steht in dem großen Buch - ich meine das Universum - das stets offen vor uns liegt, aber wir können es erst verstehen, wenn wir die Sprache und die Buchstaben verstehen, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort daraus zu verstehen“ (3).
 

1.2 Das induktiv-deduktive Verfahren des ARISTOTELES

Das pythagoreisch-platonische Konzept, das wahrhaft Seiende in einer idealen mathematischen Formenwelt zu suchen, wird von ARISTOTELES radikal verworfen.
Nach seiner Auffassung können nur die Phänomene selbst als die wahren Objekte der Naturerkenntnis angesehen werden. Durch den Prozeß der generalisierenden Induktion (Abb. 2) werden aus den zu erklärenden Phänomenen allgemeine erklärende Prinzipien gewonnen. Aus allgemeinen physikalischen Prämissen, die jene Prinzipien umfassen, werden dann deduktiv naturgesetzliche Aussagen über den Phänomenbereich hergeleitet.
 

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Abb. 2: Induktiv-deduktives Verfahren bei ARISTOTELES

Entscheidend ist bei diesem induktiv-deduktiven Verfahren, daß die erklärenden Prinzipien  -  im Gegensatz zu dem pythagoreisch-platonischen Konzept  -  nicht mathematische Entitäten, sondern den Dingen inhärente physikalische Qualitäten sind.

In diesem Sinne bestimmt die „substantielle Form des Elements“ die Art seiner „natürlichen“ Bewegung. Für einen Stein ist aufgrund seiner substantiellen Seinsweise, d.h. dem Element Erde zugehörig, die senkrechte Fallbewegung seine „natürliche“ Bewegung, während eine Wurf- oder Kreisbewegung für den Stein „erzwungene“ Bewegungen darstellen.

Uns erscheint es überraschend, daß ARISTOTELES seine deduktiven Schlüsse von den Prämissen zu den Phänomenen keiner weiteren experimentellen Überprüfung unterzieht.

Dabei stellt sich die entscheidende Frage:
Warum fehlt in der aristotelischen Methode diese Form des Experiments? Bei GALILEI, dem eigentlichen Erfinder des physikalischen Experiments wird deutlich, daß der ganz wesentliche Aspekt des Experiments in der künstlichen Isolierung und Idealisierung der komplexen Phänomene liegt. Denn nur durch diesen entscheidenden Prozeß der Idealisierung der Phänomene wird der mathematische Zugriff auf sie möglich. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Falsifikationsmöglichkeit mathematisch formulierter Hypothesen. Diese Künstlichkeit der Isolierung der Phänomene im Experiment steht jedoch gerade im diametralen Gegensatz zu der Naturauffassung des ARISTOTELES; denn er betrachtet den Kosmos ganzheitlich, gleichsam als einen lebenden Organismus.

Die experimentelle „Sezierung der Natur“ - wie dies FRANCIS BACON, einer der Wegbereiter GALILEIs einmal treffend genannt hat - läuft der Auffassung des ARISTOTELES völlig zuwider. Unsere Begriffsbildung Geschwindigkeit enthält für ARISTOTELES zwei so grundverschiedene physikalische Qualitäten wie räumliche und zeitliche Distanz, daß ihm diese völlig künstlich und naturwidrig erscheinen müßte.
Während GALILEI den „freien“ Fall gerade unter Absehung von allen störenden Einflüssen der Umgebung beobachtet, ist diese für ARISTOTELES ein integraler Bestandteil des zu untersuchenden Phänomens. 


Auch die mathematische „Sezierung“ der Phänomene liegt außerhalb der Denksphäre der aristotelischen Physik. Mathematische Analyse zielt in der Antike auf Vollkommenes, Unveränderliches. Da ARISTOTELES jedoch in den Veränderungen der komplexen Phänomene den Gegenstand der Physik sieht, sind diese essentiell einer mathematischen Erfassung entzogen.

Dementsprechend zielt ARISTOTELES' Theorie nicht auf eine Erklärung der Phänomene durch Reduktion auf übergeordnete mathematische Strukturen.

Adäquate Erklärungen können nur die vier Aspekte der Verursachung sein:
Causa formalis (Formalursache)  -  causa materialis (Materialursache)  -  causa efficiens (Wirkursache) und mit einen besonderen Stellenwert die causa finalis (Zweckursache).
 

1.3 Die „Künste“ des ARCHIMEDES

ARCHIMEDES, dem wir einen systematischen mathematischen Aufbau der Statik verdanken, hat mit Hebeln. Schrauben und Flaschenzügen experimentiert. Warum diese „Mechanik“ in der Antike jedoch nicht als physikalische Naturerkenntnis angesehen wurde, erkennen wir beim Studium der „Problemata mechanika“ des ARISTOTELES.

Sie beginnen mit der Feststellung:
„Verwunderung erregen natürliche Vorgänge, wenn ihre Ursache nicht bekannt ist, und naturwidrige Vorgänge erregen Verwunderung, wenn sie durch menschliche Kunst dem Menschen zum Nutzen sich abspielen. . . . Wünscht man etwas gegen die Natur zu unternehmen, . . . . so bedarf es unserer Kunst. Deshalb nennen wir denjenigen Teil der ,Kunst’ Technik, welcher uns bei derartigen Verlegenheiten zu Hilfe kommt, ein ,Mittel’, eine ,List’“ (4).

Während sich die Physik mit den in der Natur „natürlich“ ablaufenden Bewegungen befaßt, ist die Mechanik (mechanische Technik) die Kunst, die Natur zu überlisten. Sie untersucht die durch künstliche Einwirkungen gegen die Natur ablaufenden Vorgänge. Entscheidend ist nun, daß zur Untersuchung der künstlichen, unnatürlichen Vorgänge, welche nicht von der Natur selbst, sondern von Maschinen hervorgebracht werden, hier die Mathematik als legitimes und geeignetes Hilfsmittel angesehen wird, die Einzelvorgänge aus übergeordneten theoretischen Prinzipien zu deduzieren.

Obwohl man seit ARCHIMEDES über die experimentellen Möglichkeiten und mathematischen Hilfsmittel verfügt, kam es nicht zur Ausbildung einer physikalischen Methode in unserem Sinne, weil man sich von dem aristotelischen Dogma der prinzipiellen Unterscheidung von Physik und Technik nicht lösen konnte.

Deshalb blieb der Antike trotz genialer Leistungen des ARCHIMEDES im Bereich der Statik und der technischen Anwendung die erkenntnistheoretische Funktion des Experiments im physikalischen Erkenntnisprozeß verschlossen. Erst indem GALILEI sich in der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Naturphilosophie von deren metaphysischen Hintergrundüberzeugungen langsam löste, wurde ihm die methodische Bedeutung des Experiments immer deutlicher.
 

2. Methodische Konzepte der klassischen Physik

2.1 GALILEIs „metodo compositivo“

GALILEI vollzieht die ideengeschichtlich bedeutsame Synthese zwischen PLATON, ARISTOTELES und ARCHIMEDES. Es sei jedoch bemerkt, daß der Boden für diesen entscheidenden Prozeß im naturwissenschaftlichen Denken seit dem 14. Jahrhundert durch eine Reihe von „Vorläufer“, besonders ORESME vorbereitet war. Mit ARISTOTELES ist GALILEI davon überzeugt, daß die Erforschung der
Natur mit der Sinneserfahrung beginnt (Abb. 3),

Deshalb machen ihn Vertreter eines naiven Positivismus gern zum Kronzeugen einer „rein induktiven Methode“, mit der er die theoretischen Spekulationen der aristotelischen Naturphilosophie den Todesstoß versetzt haben soll, Die Legende will, daß er das Fallgesetz „rein experimentell“ aus gemessenen Wegstrecken und den korrespondierenden Zeitintervallen bei Fallversuchen am schiefen Turm zu Pisa gefunden haben Soll, Diese Mär ist eine völlige Verdrehung der tatsächlichen Methode GALILEIs, die erstaunlicherweise auch heute noch kolportiert wird.

Hören wir GALILEI selbst, was er im Zusammenhang mit seinen Versuchen an der schiefen Ebene über die Rolle des Experiments in seinem methodischen Konzept sagt:

„Ich habe ein Experiment darüber angestellt, aber zuvor hatte die natürliche Vernunft mich ganz fest davon überzeugt, daß die Erscheinung so verlaufen mußte, wie sie tatsächlich verlaufen ist“ (3).

Hier ist deutlich gesagt, warum GALILEI experimentiert: Das im platonischen Ansatz wurzelnde theoretische Konzept wird im Experiment getestet.
 

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Abb. 3: Die Methode GALILEIs

GALILEI erklärt:
„Ich will mich im Experiment davon überzeugen, daß die beim natürlichen Fallen auftretenden Beschleunigungen mit den vorher (durch die Theorie) beschriebenen übereinstimmen“ (5).

Während bei PLATON die mathematischen Ideen ein nur durch reines Denken sich erschließendes Dasein in einer übersinnlichen Welt außerhalb von Raum und Zeit führen, werden sie bei GALILEI mit den Phänomenen konfrontiert und getestet. Dies ist jedoch erst möglich, wenn man in einem abstrahierenden Idealisierungsprozeß den „reinen Fall“ oder das abstrakte Phänomen aus der komplexen Vielfalt der Naturphänomene herausisoliert; denn nur bei einem solchen idealisierten Fall ist die Mathematisierung möglich und im experimentellen Test überprüfbar. 


Beim Idealisierungsprozeß kommt es darauf an, die - wie GALILEI sagt - „am besten passenden Begriffe und Definitionen“ zu finden. Wie diese Anpassung der mathematischen Abstrakta an die Naturphänomene geschieht, verrät uns GALILEI selbst:

„Bei der Untersuchung der natürlichen beschleunigten Bewegung ließen wir uns von den Gewohnheiten der Natur selbst leiten, die uns in all ihren verschiedenen Prozessen lehrt, nur die allgemeinsten, einfachsten und leichtesten Mittel anzuwenden“ (5) .

Die mathematische Beschreibung der Naturphänomene, die dem aristotelischen Konzept zuwiderlief, wird jetzt bei GALILEI möglich, weil er die für die Entwicklung der physikalischen Methode so folgenschwere Trennung zwischen Physik und Technik der Antike aufhebt. In seiner Schrift „Le mecaniche“ fällt die prinzipielle Unterscheidung von technischen, „künstlichen“ und „natürlichen“ physikalischen Bewegungen.

In der Antike ist das Experiment nur in der Statik des ARCHIMEDES ein legitimes methodisches Element. Erst nach Aufhebung der kategorialen Trennung von Physik und Technik wird durch diesen bedeutsamen Paradigmawechsel das Experiment nun auch zu einem essentiellen Bestandteil der Methode der klassischen Physik.
 

Hervorzuheben ist, daß die Mathematisierung nun nicht mehr wie bei ARCHIMEDES ein ontologisch neutrales Hilfsmittel ist, sondern im Sinne der pythagoreisch-platonischen Tradition in die Seinsweise der Phänomene hineinprojiziert wird.
 

2.2 NEWTONs axiomatische Methode

Die Methode NEWTONs besteht aus drei wesentlichen operativen Schritten (Abb. 4).
Der erste Schritt betrifft die Aufstellung der „Principia mathematica“ (6).

Da die Definitionen, Axiome und Theoreme nicht wie in der Mathematik nur rein logisch, sondern im Prozeß einer intuitiv geleiteten Abstraktion an den Phänomenen abgelesen werden, sollte man sie besser „physikalische Prinzipien“ nennen.
 

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Abb. 4: Die Methode NEWTONs

NEWTON unterscheidet zwischen den „absoluten Größen“, den Abstrakta, und den „wahrnehmbaren Maßen“, die in den Phänomenen zu suchen sind.

Der zweite und wichtigste Schritt der Methode NEWTONs besteht in der Aufstellung von Korrespondenzregeln (semantischen Zuordnungsregeln), die den theoretischen Termen und Sätzen des mathematischen Systems und den korrespondierenden Beobachtungsstücken einen physikalischen Sinn verleihen. Sie haben einen semantischen und ontologischen Gehalt. NEWTON geht davon aus, daß dann mittels einer intuitiv erratenen theoretischen Struktur empirische Sachverhalte abgebildet werden können. Dies geschieht durch Aufzeigen von experimentellen Operationen, die damit auch zugleich ein prinzipielles Meßverfahren der physikalischen Größen definieren. 

Der dritte Schritt in NEWTONS Methode ist auf die Prüfung der deduktiven Folgerungen aus den Sätzen des durch Intuition empirisch inspirierten Axiomensystems im Experiment gerichtet. So hat z.B. NEWTON zur Prüfung seines III. Axioms Experimente mit zusammenstoßenden Pendeln aus verschiedenen Materialien durchgeführt. Das I. und II. Axiom sah NEWTON durch Beobachtungsdaten unseres Planetensystems bestätigt, z.B. durch seine berühmte Mondrechnung.

Wie steht es mit NEWTONs stolzer Behauptung: „Hypotheses non fingo“? Es ist die Behauptung, er komme bei seiner axiomatischen Methode ohne metaphysische Hintergrundüberzeugungen aus. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. NEWTONS „absoluter Raum“, den er als „Sensorium Gottes“ bezeichnet, zeigt besonders deutlich, wie wenig NEWTON seinen methodischen Vorsatz, „okkulte Qualitäten“ aus der Physik zu verbannen, wirklich treu geblieben ist.

Wir werden später noch genauer darauf eingehen, daß eine physikalische Methode ohne außerlogische und außerphysikalische Setzungen, d.h. wissenschaftliche Vorurteile gar nicht möglich ist. Als „Themata“ (HOLTON) von „Forschungsprogrammen“ (LAKATOS) sind sie geradezu notwendig.
 

2.3 Kritik an der Methode der klassischen Physik

Das in den „Principia“ (1686) realisierte methodische Konzept wurde das Fundament, auf dem in den folgenden zwei Jahrhunderten das Gebäude der klassischen Physik errichtet wurde. Aber es meldete sich auch Kritik gegen dieses mechanistische Weltbild an.

Der französische Philosoph und Herausgeber der großen Enzyklopädie DIDEROT wandte sich gegen die Unzulänglichkeiten eines mechanistischen Erklärungsversuches der Welt und ERNST MACH kritisierte „das Pleonastische, Tautologische und Äbundante“ des NEWTONschen Konzeptes.

Ebenso unterzog der französische Physiker und Wissenschaftstheoretiker PIERRE DUHEM in seinem 1908 erschienenen Werk „Ziel und Struktur der physikalischen Theorien“ die Methode NEWTON s einer sehr kritischen Analyse. Auf zwei Punkte soll etwas näher eingegangen werden.
 
 

2.3.1 Die generalisierende Induktion

NEWTONs Vorgehen erweckte den Anschein, er habe durch „generalisierende Induktion“ aus den drei KEPLERschen Gesetzen das Prinzip der allgemeinen Gravitation gefunden. Die KEPLERschen Gesetze sind kinematische Gesetze, in denen Kräfte und Massen nicht in dem Zusammenhang wie im Gravitationsgesetz vorkommen.
 

DUHEM bemerkt dazu:
„Das Prinzip der allgemeinen Gravitation kann daher keineswegs durch Generalisation und Induktion aus den Beobachtungsdaten, die KEPLER formuliert hatte, abgeleitet werden; es widerspricht vielmehr in aller Form diesen Gesetzen. Wenn die Theorie von NEWTON richtig ist, sind die KEPLERschen Gesetze notwendigerweise falsch“ (7).

Weiterhin sei betont, daß die KEPLERschen Gesetze keineswegs einfach „Beobachtungsdaten“ sind. Geleitet von metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen hat KEPLER sie durch unlogische Handhabung seiner „Hypothesis vicaria“ (Ersatzhypothese) und problematischen ad-hoc-Annahmen in nichtlogischer Weise gegen jede wissenschaftstheoretische Vernunft in geradezu „nachtwandlerischer Weise“ gefunden.
 

2.3.2 Das „Experimentum crucis“

Der dritte Schritt in NEWTONs Methode betrifft die Möglichkeit, durch ein Experiment eine Entscheidung zwischen zwei sich widersprechenden oder konkurrierenden theoretischen Konzepten herbeizuführen. Auch hier hat DUHEM gezeigt, daß eine solches „Experimentum crucis“ prinzipiell nicht möglich ist.

Im 19. Jahrhundert, und z. T. auch heute noch, wurde weithin angenommen, FOUCAULTs Experiment, in dem festgestellt wurde, daß die Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser ist, sei ein solches „Experimentum crucis“, das zwischen der Korpuskulartheorie des Lichtes von NEWTON und der Wellentheorie von HUYGENS entscheiden könne. Man glaubte dieses Experiment als Rechtfertigung der Wellentheorie ansehen zu können.

Ist es dies wirklich?
Die Vorhersage der Korpuskulartheorie, daß die Lichtgeschwindigkeit im Wasser größer als in Luft ist, basiert auf einer ganzen Gruppe von Hypothesen, wobei die Emissions-Hypothese, welche das Licht als Teilchenstrom interpretiert, nur eine Prämisse darstellt. Daneben stehen Hypothesen über die Wechselwirkung der Lichtkorpuskel mit verschiedenen Medien. Analog werden in der Wellentheorie Hypothesen über die Ausbreitung von Wellen in verschiedenen Medien postuliert, die sich wieder auf eine Menge von Annahmen stützen, welche dann nach einer langen Argumentationskette die Aussage implizieren, daß die Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser sein sollte.
Wenn man also die Wahrheit der Hilfshypothesen voraussetzt, kann man aus dem Ausfall des FOUCAULT-Experimentes daher nur den Schluß ziehen, daß nicht sämtliche Hypothesen der Korpuskeltheorie richtig sind. Mindestens eine muß falsch sein. Aber das FOUCAULT-Experiment sagt nichts darüber aus, welche es ist.

DUHEM kommt daher zu dem Schluß, „daß der Physiker niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe von Hypothesen der Kontrolle des Experiments unterwerfen kann“.

Geradezu prophetisch liest sich seine Feststellung:
„Licht kann ein Schwarm von Projektilen, es kann eine Schwingungsbewegung sein, ist es ihm deshalb verboten, irgend etwas beliebig Anderes zu sein?“ (7).
 

Der Photoeffekt zeigt jenes „Dritte“, wie FEYNMAN einmal treffend die Situation charakterisiert hat. Aber auch der Photoeffekt ist kein „Experimentum crucis“ nun gegen die Wellentheorie des Lichtes. Er deutet lediglich darauf hin, daß im System der Grundannahmen der klassischen Wellentheorie ganz bestimmte Modifikationen notwendig sind, die ja dann auch in der Tat im Rahmen der Quantenelektrodynamik durch Quantisierung der Feldgrößen vorgenommen wurde.
 

TH. KUHN vertritt die These, daß grundsätzlich Experimente nicht eigentlich der Überprüfung einer Theorie dienen, sondern die Übereinstimmung von Theorie und Beobachtung ein Kriterium für die Angemessenheit und Güte der verwendeten experimentellen Techniken und Instrumente sei (8).
 

3. Wissenschaftstheoretische Aspekte der modernen Physik

3.1 EINSTEINs erkenntnistheoretischer Imperativ
      „EJASE-Prozeß“ der Theorienkonstruktion

EINSTEIN hat seine Methode charakterisiert als den „Versuch, die chaotische Vielfalt unserer Sinneserfahrungen in ein logisch einheitliches Gedankensystem einzubauen“. Die einzelnen Erfahrungen müssen mit der theoretischen Struktur des Gedankensystems so in Beziehung gesetzt werden, daß das Ergebnis eindeutig und pragmatisch überzeugend ist. Diesen Prozeß hat er in einem Brief an seinen Freund SOLOVINE schematisch dargestellt (9).

In dem Schema (Abb. 5) ist die Mannigfaltigkeit der unmittelbaren sinnlichen Erlebnisse durch die Linie E symbolisiert. A bedeutet das System der Axiome und S die gefolgerten Sätze. Besondere Bedeutung kommt dem gebogenen Pfeil J (engl. „Jump“ = Sprung) zu, der den Zusammenhang zwischen der Erfahrungswelt und dem Axiomensystem darstellen soll. EINSTEIN stellt heraus, daß es nicht möglich ist, durch generalisierende Induktion von E nach A zu gelangen, wie die Empiristen glaubten.

EINSTEIN weist darauf hin:
„Psychologisch beruhen die A auf E. Es gibt aber keinen logischen Weg von E nach A, sondern nur einen intuitiven (psychologischen) Zusammenhang, der immer auf Widerruf ist“ (10).

Diesen Sachverhalt nennt er den ersten logischen Sprung. Der zweite logische Sprung betrifft die Begriffe untereinander bei der Formulierung des Axiomensystems. Nicht nur die Begriffe selbst, sondern das ganze Begriffssystem ist eine freie Schöpfung des Menschen, dessen Rechtfertigung nur im pragmatischen Erfolg des Gesamtsystems liegt, und zwar „in dem Maße der Übersicht über die Sinneserlebnisse, die wir mit seiner Hilfe erreichen können“. Auch zu den elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern „nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition“.

In diesem Zusammenhang hat EINSTEIN bemerkt:
„Hätte FARADAY das Induktionsgesetz entdeckt, wenn er eine reguläre Universitätsausbildung gehabt hätte?“

Nach EINSTEIN gibt es für die Erstellung des Axiomensystems „keinerlei erlernbare systematisch anwendbare Methode, die zum Ziel führt. Der Forscher muß vielmehr der Natur jene allgemeinen Prinzipien einfach ablauschen“.
 
In Ermangelung eines logischen Weges muß der Forscher bei seinem intuitiven Vorgehen sich an allgemeinen Symmetrie-Prinzipien und Ideen der formalen Einfachheit und der Sparsamkeit der Begriffe in Bezug auf logisch unabhängige Elemente orientieren; d.h. die irreduziblen Grundelemente des Systems so gering und so einfach wie möglich zu halten. Die aus dem Axiomensystem gefolgerten Sätze müssen an der Erfahrung geprüft werden.

Dazu bemerkt EINSTEIN:
„Die Prozedur gehört genau betrachtet der extralogischen (intuitiven) Sphäre an, weil die Beziehungen der in den S auftretenden Begriffe zu den Erlebnissen E nicht logischer Natur sind“ (10). (Vermutlich hat EINSTEIN deshalb auch die von S nach unten ausgehenden Pfeile punktiert gezeichnet.)

EINSTEINS Kritiker haben ihm vorgeworfen, die Rolle der Intuition im physikalischen Erkenntnisprozeß überbetont zu haben. Dazu ist festzustellen, daß das intuitive Vorgehen - wie EINSTEIN selbst sagt - „immer auf Widerruf“ geschieht, indem die schöpferische Phantasie sich regulativen Prinzipien unterwirft.

Die im Diagramm (Abb. 5) dargestellte Methode ist nämlich kamt statische Situation, sondern als zyklischer Prozeß zu interpretieren, der von E über J nach A zu S und dann wieder zurück nach E verläuft. Dieser in vielen Zyklen immer wieder durchlaufene EJASE-Prozeß garantiert eine immer bessere Passung oder Adaption des theoretischen Konzeptes an die Erfahrungstatsachen und damit eine ständige Approximation der Ideen an die Wirklichkeit. Dieser Adaptionsprozeß kann sich subjektiv bei dem einzelnen Forscher vollziehen aber auch als historischen Prozeß verstanden werden. Dabei fällt dem Experiment nicht die Rolle zu, eine Theorie durch einen punktuellen empirischen Test zu verifizieren. So hat z.B. das MICHELSON-MORLEY-Experiment für EINSTEIN bei der Entwicklung seiner Theorie keine entscheidende Rolle gespielt. Eine Theorie kann dann akzeptiert werden, wenn sie permanenten Falsifikationsversuchen, die sich auch des Experiments bedienen, widersteht.

In diesem Sinne rechtfertigt das Aufzeigen empirischer Adäquatheit, d.h. der pragmatische Erfolg, den EJASE-Prozeß. Geleitet wird dieser - wie EINSTEIN immer betont hat - „extralogisch“ von „außerwissenschaftlichen Vorurteilen“.

Diese Feststellung hat grundsätzliche Bedeutung. Bei GALILEI hatten wir bereits darauf hingewiesen. G. HOLTON nennt diese metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen „Themata“ (11).
 

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Abb. 5: EINSTEINs EJASE-Prozeß
 

Sie wirken beim „J-Prozeß“ als einschränkende Ideen-Filter. Solche außerphysikalischen, quasi-theologischen Hintergrundsüberzeugungen haben besonders bei COPERNICUS und KEPLER, aber eigentlich bei allen großen Forschern eine wichtige stimulierende Wirkung ausgeübt. Aus der pythagoreisch-platonischen Wurzel sind immer wieder neue Triebe gewachsen.
 

3.2 Der Meßprozeß in der Quantenphysik

In der klassischen Physik konnte man davon ausgehen, daß die Wechselwirkung der Meßvorrichtung mit dem Beobachtungsobjekt vernachlässigbar ist.

Wegen der Unbestimmtheitsrelation ist dies in der Quantenphysik prinzipiell nicht möglich. Nach ihr sind z. B. Orts und Impulsmessungen einander ausschließende Meßverfahren. Ist ein Mikroobjekt scharf lokalisiert (Ortsmessung), so ist sein Impuls völlig unbestimmt. Dies kann auch durch eine sofort erfolgende Impulsmessung nicht kompensiert werden, weil dabei die Lokalisierung aufgehoben und damit die gewonnene Kenntnis des Ortes wieder verloren geht. Dies führt dazu, daß quantenmechanisch auch bei vollständiger Kenntnis eines Systemzustandes über die Ergebnisse einer Messung nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können.

Nach der Kopenhagener Interpretation besteht eine unaufhebbare Verknüpfung zwischen der Meßapparatur und dem Mikrosystem. Beide zusammen stellen das Quantenphänomen dar. Die psi-Funktion beschreibt nicht mehr die Wirklichkeit an sich, sondern die durch den Experimentator im Meßprozeß aktualisierte Wechselwirkung des Mikrosystems mit der Meßvorrichtung. In diesem Sinne konstituiert die Kenntnisnahme des Beobachters die „faktische Realität“ des Mikroobjektes.

Nach der Kopenhagener Interpretation vermittelt Physik nicht mehr ein Bild der Natur, sondern ein Bild unserer Kenntnis über die Natur. Ort und Impuls eines Mikroobjektes existieren nicht unabhängig von der Beobachtung, sondern erst im Meßprozeß werden sie existent. Daher ist es nicht mehr ohne weiteres möglich, dem Mikroobjekt selbst eine physikalische Eigenschaft zuzuschreiben. Im Gegensatz zu den Objekten der klassischen Physik, kann man Mikroobjekte nun nicht mehr als autonome Elemente der Wirklichkeit ansehen.

Nach HEISENBERG vollzieht sich im Meßprozeß der Übergang vom Möglichen zum Faktischen. Im Formalismus der Quantenmechanik beschreibt man diesen Übergang als „Reduktion des Wellenpaketes“.
 
Die Kopenhagener Interpretation impliziert:
Sein ist gemessen werden. Während ARISTOTELES die „ordo essendi“ vor die „ordo cognoscendi“ setzte, kehrt die Kopenhagener Interpretation dieses erkenntnistheoretische Konzept gerade um. Diese Position wird von den realistischen Kritikern der Kopenhagener Interpretation nicht akzeptiert.

Gerade in den letzten Jahren wurde im Zusammenhang mit dem Problem der verborgenen Parameter und dem EINSTEIN-ROSEN-PODOLSKY-Paradoxon die Kritik wieder verstärkt aufgenommen. Sehr interessant scheint der Ansatz von BOHM, welcher die psi-Funktion als reales Feld deutet, das auf das Mikroobjekt Kräfte ausübt.

Zwischen BOHMs Ansatz, der bei seiner Theorienkonstruktion beim J-Prozeß ein anderes „thematisches Filter“ als die der Kopenhagener Interpretation anhängende Physiker benutzt, und der statistischen Deutung der psi-Funktion ist durch ein „Experimentum crucis“ keine Entscheidung herbeizuführen.
 

3.3 Objektive Erkenntnis  -  physikalische Wirklichkeit

PIERRE DUHEM hat in seiner Untersuchung über „Ziel und Struktur physikalischer Theorien“ deutlich herausgestellt, daß Theorien die Wirklichkeit nicht wörtlich oder vollständig, sondern immer nur unvollständig und symbolisch abbilden. Es gibt auch keinen eindeutigen logischen Weg von empirischen Daten zur Theorie.
Die gleichen Fakten können durch verschiedene theoretische Konzepte adäquat dargestellt werden (vgl. 2.3.2 „Experimentum crucis“).

Theorien sind begriffliche Modelle, die auf reale Systeme zielen. Sie können die Phänomene nur dann erklären, wenn sie abstrakte begriffliche Elemente enthalten, die wesentlich über die bloße Beobachtung hinausgehen. So ist z.B. der zentrale Begriff der MAXWELL-Theorie des „Verschiebungsstromes“ nicht aus der Beobachtung zu gewinnen. Das gleiche gilt für die Begriffe der Feldstärken und Potentiale.
Die These von P. K. FEYERABEND, Erfahrungswissen werde immer erst durch die Theorie erzeugt, ist jedoch überzogen. 


Die empirischen Daten TYCHO BRAHEs waren die Basis für KEPLERs theoretische Arbeiten und Beobachtungsmaterial der Spektroskopie ging der Atomtheorie voraus. DAVISSON und GERMER beobachteten Elektronenbeugung vor Bekanntwerden der Theorie DE BROGLIEs.

Wenden wir uns nun der entscheidenden Frage zu:
Wie und in welchem Sinne bildet eine physikalische Theorie einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit ab?  Diese Frage ist zu verschiedenen Zeiten und vor verschiedenen philosophischen Hintergrundüberzeugungen ganz unterschiedlich beantwortet worden (Abb. 6).
 

 

Die phänomenologische Auffassung deutet Theorien als Instrument zur denkökonomischen Beschreibung der Sinneswahrnehmungen. Dies ist die Auffassung des Positivismus MACHscher Prägung. Die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik basiert auf einer operationalistischen Theorie-Deutung.

Ihre Beziehung zur Wirklichkeit läßt sich am kürzesten durch die These charakterisieren: Sein ist gemessen werden. In einer instrumentalistischen Deutung einer Theorie kommt dieser nur eine syntaktische Funktion zu. Theoretische Terme werden durch Reduktionsverfahren auf Beobachtungsbegriffe zurückgeführt. Dabei wird der Realitätsbezug ausgeklammert.

Vertreter des logischen Empirismus haben sich diese erkenntnis-theoretische Position weitgehend zu eigen gemacht.

Der kritische Realismus dagegen geht davon aus, daß die Theorie essentiell über die Erfahrung hinausgeht, d. h. u.a., daß die Referenzmenge einer Theorie größer ist als die Evidenzmenge. Dabei bildet die Theorie die Wirklichkeit - wie M. BUNGE es formuliert -nicht „porträtmäßig oder ikonisch“ ab, sondern sie versucht, die „Subjektivität zu transzendieren“ (BUNGE), um so reale Kontakte zur Wirklichkeit herzustellen. 

Anzumerken ist, daß der objektive Charakter der naturwissenschaftlichen Erkenntnis neuerlich durch die evolutionäre Erkenntnistheorie (LORENZ (12), VOLLMER (13)) eine starke Stütze erhält. Aufgrund des Selektionsdrucks ist es nach dieser Theorie nicht möglich, daß unser Erkenntnisapparat - ein Ergebnis der Evolution -uns keine richtigen Informationen über die Wirklichkeitsstrukturen liefert. Motor und Katalysator der Theoriendynamik sind die in allen Forschungsprogrammen wirksamen metaphysischen Hintergrundüberzeugungen.

Während der logische Empirismus metaphysische Ideen völlig auszuklammern versucht, sehen wir heute in ihnen ein sehr wesentliches Element der Theoriendynamik. Diese Einsicht ist eine der interessantesten Entwicklungen der modernen Wissenschaftstheorie.

Sie bedeutet aber keineswegs die Wiederauferstehung einer Irrationalisierung. Die metaphysischen Deutungsschemata werden im Rahmen der Theorien-Validierung in rationaler Weise diskutiert. Ihre Rechtfertigung können sie jedoch nicht nur logisch sondern auch durch eine „Art historische Vernunft“ erfahren (14).
 

4. Der Teil und das Ganze

Wir haben versucht, den physikalischen Erkenntnisprozeß aufzuzeigen.

Die Ambivalenz der physikalischen Methode prägt die krisenhafte geistige Situation unserer Zeit, die von der Entfremdung des Menschen von der Natur gezeichnet ist.

Kein geringerer als GOETHE hat in seiner Farbenlehre NEWTON den Vorwurf gemacht, mit seiner Methode eine „Zwingburg“ errichtet zu haben, die „aller reinen Forschung den Weg versperrt“. Die Experimente, bei denen NEWTON das Licht durch Spalte und Linsen „quält“, verabscheut GOETHE, weil sie über die wahre Natur des Lichtes nichts aussagten.

Der englische Physiker EDDINGTON charakterisiert die Methode der Physik als „experimentelle Sezierung der Natur“ so:
„Wie erinnerlich dehnte und hackte PROKRUSTES seine Gäste zurecht, damit sie in das Bett paßten, das er gebaut hatte. Aber vielleicht ist das Ende der Geschichte nicht bekannt. Er maß sie, ehe sie am folgenden Morgen weggingen, und schrieb eine gelehrte Abhandlung über die gleichbleibende Länge der Reisenden für die Antropologische Gesellschaft von Attika“.

Indem wir die Phänomene analysieren, müssen wir sie notwendigerweise in ihre Teile „zerhacken“.Ansätze von PRIGOGINEs Thermodynamik offener Systeme und der von HAKEN entwickelten Synergetik zeigen wichtige Perspektiven einer neuerlichen Synthese zum Ganzen.
 

Die Betrachtung von sich selbstorganisierenden Systemen scheint uns methodisch wieder der Konzeption ARISTOTELES näher zu bringen, die den Kosmos nicht als Maschine, sondern als zusammenhängenden Organismus ansieht. Nicht nur die Analyse der Teile sondern auch die Synthese zum Ganzen muß die Methode der Physik leiten. Durch solches „hermeneutisches Verstehen“ könnte sich ein neuer Dialog mit der Natur entwickeln und ein entsprechendes Verhältnis des Menschen zur Natur und Kultur eröffnen.

Schon vor zwanzig Jahren hat MAX VON LAUE die Physiker darauf verwiesen, daß die Physik ihre „eigentliche Würde“ nur daher beziehen kann, daß sie „ein wesentliches Hilfsmittel der Philosophie abgibt . . . . So und nur so ist gegenüber der unaufhaltsam fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften die Einheit der wissenschaftlichen Kultur zu wahren, jene Einheit, ohne welche die ganze Kultur dem Zerfall geweiht wäre“ (15).
 

Literatur:

(1) LAKATOS, I.: Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, Braunschweig, 1978.

(2) JAMMER, M.: Der Begriff der Masse, Darmstadt, 1964.

(3) GALILEI, G.: Le Opere, VI. Edizione Nationale, Firenze, 1890-1909.

(4) KRAFFT, F.: Das Selbstverständnis der Physik im Wandel der Zeit, Weinheim, 1982.

(5) GALILEI, G.: Le Opere, VI.

(6) NEWTON, I.: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Berlin 1872 und Darmstadt, 1963.

(7) DUHEM, P.: Ziel und Struktur der physikalischen Theorie, Leipzig 1908 und Hamburg, 1976.

(8) KUHN, TH.: The Function of Measurement in Modern Physical Science, in Woolf, H.: Quantification: A History of the Meaning of Measurement in the Natural and Social Science, Indianapolis, 1961.

(9) HOLTON, G.: Einsteins Methoden zur Theorienbildung in Albert Einstein, Sein Einfluß auf Physik, Philosophie und Politik (Herausgeber): P. C. Aichelburg und R. U. Sexl, Braunschweig, 1979.

(10) Brief EINSTEINs an SOLOVINE, zitiert nach G. HOLTON (9).

(11) HOLTON, G.: Thematische Analysen der Wissenschaft, Frankfurt, 1981.

(12) LORENZ, K.: Die Rückseite des Spiegels, München, 1973.

(13) VOLLMER: Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart, 1982.

(14) HÜBNER, K.: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg / München, 1979.

(15) LAUE, M. v.: Gesammelte Schriften und Vorträge, Band 3, Braunschweig, 1981.
 

 
 
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