Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik

Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik
Von Prof. Dr. Wilfried Kuhn, Institut für Didaktik der Physik, Universität Gießen

Quelle:
KUHN, W. (1984): „Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik“,
DPG-Didaktik-Tagungsband 1984, S. 1 – 25. Hrsg.: Prof. Dr. Wilfried Kuhn,
Direktor des Instituts für Didaktik der Physik der Universität Gießen

Zitat:

Die Formulierung des Themas Wissenschaftstheorie „und“ Didaktik der Physik sollte nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als könnten diese beide Disziplinen in einfacher Weise in Verbindung gebracht werden. Die Konjunktion will vielmehr ihre komplexen und sehr tief gehenden Wechselbeziehungen bewußt machen und auf daraus resultierende, vielfältige Konsequenzen für den Vermittlungsprozeß physikalischer Erkenntnisse verweisen.

1. Grundsätzliche Überlegungen

Wissenschaftstheorie wie Didaktik entspringen dem kritischen Nachdenken über das Faktum Wissenschaft. Im Hinblick auf ihre Bezugswissenschaft – in unserem Falle die Physik – nehmen sie die gleiche erkenntnistheoretische Position ein. Diese ist gekennzeichnet sowohl durch ihre sehr enge Verbindung, als auch zugleich durch eine kritisch-reflektierende Distanz. Solcher Reflexion geht es beiden Disziplinen um das zentrale Problem, die Prozeßstruktur physikalischer Begriffs- und Theorienbildung zu „erklären“ und zu „verstehen“.  

Die dabei gewonnenen Einsichten sind von grundlegender Bedeutung für den Lehr- und Lernprozeß physikalischer Inhalte; denn erst nach eingehender wissenschaftstheoretischer Analyse kann entschieden werden, worin eigentlich das Wesentliche der Bezugsdisziplin besteht, und welche Inhalte, bzw. welche methodischen Konzepte dementsprechend Lehrgegenstände sein sollten.

Der Physikdidaktik fällt dabei die sehr wichtige Aufgabe zu, in zwei grundsätzlich verschiedenen Richtungen zu argumentieren und zu überzeugen.

Physik-Pädagogen, die ihre Arbeit als spezielle Anwendung allgemeiner Pädagogik oder sozialwissenschaftlicher Lehren verstehen, glauben, ihre „corricularen Entscheidungen“ primär „pädagogisch“ – nicht selten unter dem korrodierten bildungspolitischen Damoklesschwert endlos zu garantierender Chancengleichheit – verantworten zu müssen. Für eine wissenschaftstheoretisch intendierte Physik-Didaktik stellt sich die Frage, ob dabei denn auch Wesentliches der Bezugsdisziplin, d.h. grundlegende, strukturelle Einsichten in den physikalischen Erkenntnisprozeß vermittelt werden, die sich nicht „spielerisch“, sondern nur durch harte intellektuelle Anstrengungen erschließen, denen oberflächlicher Zeitgeist gar nicht hold zu sein scheint.

Aber auch in anderer Richtung ist Aufmerksamkeit geboten, nämlich gegenüber jenen Fachspezialisten, die in der Befangenheit ihres fachspezifisch verengten, wissenschaftstheoretischen Verständnishorizontes im Lehr- und Lernprozeß auftretende, schwierige begriffliche Probleme mit erstaunlicher und zuweilen such peinlich wirkender Harmlosigkeit ganz unwissenschaftlich erledigen, obwohl sie sich sonst gerne als Gralshüter der Wissenschaftlichkeit geben.

Wissenschaftstheoretisch Unreflektiertes von Fachspezialisten plakativ und forsch ex cathedra verkündet, macht es gerade intellektuell anspruchsvollen und kritischen Hörern schwer, weil sie die Physik nicht nur „handhaben“, sondern such „verstehen“ wollen.

Wenn Fachspezialisten sich gelegentlich veranlaßt sehen, wissenschaftstheoretisch Flagge zeigen zu müssen, dann ist es meist die etwas zerschlissene Standarte des logischen Empirismus oder die eines Induktionismus BACONscher Prägung.

Hinter diesen Fahnen marschieren auch Physikdidaktiker, die meinen, in jener Phalanx Gesinnungsgenossen zu haben, die ihren rein „empirischen“ Arbeiten, orientiert an sozialwissenschaftlichen Erhebungsmethoden, wissenschaftliche Dignität schwerlich versagen könnten. Als Organisatoren von „effektiven Lernprozessen“ – wobei immer zu bedenken ist, daß man mit optimalen Methoden und unter Einsatz modernster Medien auch ganz Unwesentliches vermitteln kann – ist ihnen nicht selten die Anerkennung auch jener sicher, denen aus oben genannten Gründen wissenschaftstheoretisch orientierte Physikdidaktik nicht ohne Vorsicht und Zurückhaltung begegnet.

2. Kritik veralteter wissenschaftstheoretischer Positionen

Die Zusammenhänge zwischen Physikdidaktik, Wissenschaftstheorie und ihrer Bezugsdisziplin sollen nun näher beleuchtet werden.

Ein Blick in Lehrbücher der Physik zeigt, daß häufig ein konsistentes wissenschaftstheoretisches Konzept überhaupt nicht vorhanden ist, oder unbewußt bzw. bewußt veraltete wissenschaftstheoretische Positionen vertreten werden. Gerne peitscht man die toten Pferde eines naiven Positivismus, Instrumentalismus und Operationalismus. Wen wundert es dann, wenn Vertreter einer instrumentalisch orientierten Didaktik ihre Thesen mit Argumenten veralteter wissenschaftstheoretischer Standorte zu legitimieren versuchen. Dabei werden meist folgende Behauptungen kolportiert:

1. Beobachtung und Experiment sind alleinige Quellen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.

2. Naturwissenschaftliche Begriffsbildungen werden nur aus Beobachtungen und Experimenten gewonnen.

3. Naturwissenschaftliche Begriffe müssen durch operationale Definitionen exakt festgelegt und veranschaulicht werden.

4. Hypothesenbildung erfolgt ausschließlich aufgrund empirischer Erfahrung.

5. Naturwissenschaftliche Gesetze und Theorien lassen sich direkt durch Verallgemeinerung spezieller empirischer Daten im Prozeß der generalisierenden Induktion finden.

6. Theorien sind effektive Verfahren zur ökonomischen Beschreibung von Sinneswahrnehmungen.

7. In Form eines sogenannten „experimentum crucis“ führt ein Experiment eine Entscheidung zwischen einander widersprechenden Theorien herbei.

8. Theorien haben lediglich syntaktische Funktion als formaler Übersetzungsmechanismus von empirischen Daten in mathematische Beschreibungen („Datenmühlen“). Sie zielen nicht auf Wirklichkeitsstrukturen, sondern fungieren als mathematische Brücken zwischen tatsächlichen und möglichen Beobachtungen.

9. Modelle vermitteln keinen Einblick in Wirklichkeitsstrukturen. Indem sie lediglich der Vorhersage und instrumenteller Manipulation der Phänomene dienen, haben sie rein praktischen, utilitaristischen Charakter. Es ist zweckmäßig, von Fall zu Fall unterschiedliche Modelle auch nebeneinander zu benutzen. Da sie nur „Denkhilfen“ sind, ist die Problematik einer Synthese sich gegenseitig ausschließender Modellvorstellungen im Sinne der Idee einer einheitlichen Wirklichkeitsstruktur ausgeklammert. Dieser ontologische Verzicht wird im Sinne einer „Komplementarität der Modelle“ legitimiert bzw. zum methodischen Prinzip erhoben.

Da derartige dogmatische Behauptungen nicht bloß in „Einleitungen“ und „Bemerkungen zu Methode der Physik“ von Physiklehrbüchern, sondern auch in den Präambeln und Handreichungen zahlreicher Lehrpläne sogar als „methodische Empfehlungen“ herumgeistern – einige davon sind ihnen wörtlich entnommen – ist es notwendig, sie zu diagnostizieren. Dabei ist das Hauptaugenmerk auf das Problem der Begriffsbildung und Theoriendynamik gerichtet. Sollte sich jemand bei dieser Diagnose ertappt oder betroffen fühlen, dann mag es für ihn tröstlich sein, sich in guter Gesellschaft jener Fachspezialisten zu befinden, auf die die bekannte Metapher von LAKATOS zielt, diese verstünden von der Methode ihres Faches so viel wie die Fische von der Hydrodynamik.

Die folgende Kritik ist vor dem Hintergrund einer historischen Analyse der Entwicklung der Methode der Physik und von der heutigen wissenschaftstheoretischen Position eines hypothetischen Realismus zu sehen.

(Zitatende)

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