Mathematik in Berlin und Halle 1963 – 1993

Vortrag am 11. Dezember 2008 vor der Berliner Mathematischen Gesellschaft, Institut für Mathematik der FU Berlin
von Gottfried Anger (Berlin)


Zitat:
 

Mit der Gründung der Kurfürstlich Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften unter Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg im Jahre 1700 begann Berlin sich zu einer Stadt der Wissenschaften zu entwickeln. Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der damals in Diensten des  Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover stand, wurde zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Leibniz war einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit. Von 1700 bis 1933 entwickelte sich Berlin zu einer Stadt der Weltwissenschaften. Man findet alles, auch die Zeit bis 2008, ausführlich dargestellt in dem Buch

Iris Grötschel: Das Mathematische Berlin – Historische Spuren und    aktuelle Szene, Berlin Story Verlag 2008.  

Meine fachliche Entwicklung auf dem Gebiet der Mathematik vollzog sich an den folgenden drei wissenschaftlichen Einrichtungen, was man ausführlich in meiner Homepage (312 Seiten) bei www.ekkehard-friebe.de/inverse.pdf  nachlesen kann.  

1. Technische Universität Dresden

Studium der Mathematik und Schwachstromtechnik von 1947 – 1951. Meine Lehrer waren unter anderem
Prof. Friedrich-Adolf Willers (1883 – 1959): Numerische Mathematik,
Prof. Ott-Heinrich Keller (1906 – 1990): Algebra und Topologie, ab 1951 an der Universität Halle tätig,
Prof. Karl Maruhn (1904 – 1976): Mathematische Analysis, lehrte ab 1959 an der Universität Gießen,
Prof. Heinrich Barkhausen (1881 – 1956): Schwachstromtechnik, jetzt ist dieses Gebiet unter dem Begriff Elektronik bekannt. Er hatte ab 1911 dieses Gebiet in Dresden entwickelt und gilt als Vater der Mikroelektronik, siehe dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Barkhausen . Prof. Barkhausen hatte vor 1939 einige führende Wissenschaftler aus Japan auf dem Gebiet der Elektronik ausgebildet und besuchte 1938 Japan. Das Gebiet der Elektronik erlebte in den vergangenen 50 Jahren einen sensationellen Aufschwung, vor allem in der Computertechnik. Während meines Studiums mussten wir alle numerischen Rechnungen mit mechanischen Handrechenmaschinen durchführen. 

Von 1952 – 1963 hatte ich eine Assistentenstelle am Institut für Reine Mathematik der TU Dresden. Unsere Ausbildung gestaltete sich relativ vielseitig, aber auf dem Gebiet der Mathematik war es der Stand wie vor 1930. Das war die Situation an den meisten Universitäten in Deutschland nach 1945. Dagegen war der Stand der Technik auf hohem Niveau. Ab 1900 gab es für die Mathematik im internationalen Rahmen wesentliche Weiterentwicklungen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Mengenlehre, der Integrationstheorie, der mathematischen Logik und der Funktionalanalysis. Für die Gleichungen der mathematischen Physik bilden diese Gebiete jetzt die Grundlage für eine Durchdringung theoretischer Aufgaben der Physik, Biologie, Medizin usw., was aber den meisten Wissenschaftlern in den Anwendungen unbekannt ist.
Daher ist auf dem Gebiet des Verhältnisses Theorie – Praxis eine sensationelle Lücke vorhanden. Für obige Gebiete gilt stets praxis cum theoria. Man vergleiche hierzu auch die Homepage des Neurologen Prof. Gerald Ulrich www.prof-ulrich.de  , der die augenblickliche Situation der Medizin beschreibt und weitreichende Veränderungen zugunsten praktischer Erfahrungen verlangt. 

Der englische Physiker Sir Isaac Newton hatte in seinem Buch Principia von 1687 (deutsche Übersetzung 1872, S. 511) bereits damals darauf hingewiesen, dass in der Experimentalphysik nur die Erscheinungsformen (Realität der Natur) von Bedeutung sind und Hypothesen nicht dafür verwendet werden dürfen. Natürlich sind Hypothesen für mathematische Untersuchungen von Bedeutung, aber die Gültigkeit der Ergebnisse für die Natur muss nachgeprüft werden, was in den meisten Fällen der theoretischen Physik kaum geschieht. Hier gibt es einen großen Nachholbedarf. Die klassische Mathematik vor 1930 ist in den Anwendungen bezüglich komplexer Systeme der offenen Natur oft zu speziell, wodurch viele Lösungen nicht erkannt werden. Daher kann man Strukturen der betrachteten Probleme nur teilweise behandeln. Das wirkt sich besonders negativ in der medizinischen Diagnostik aus. 

In der Zeit 1933 – 1945 wurden viele hervorragende Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum vertrieben. Das hatte zur Folge, dass wir jüngeren Wissenschaftler uns erst einmal mit neu entwickelten Grundlagen auseinandersetzen mussten, was überdurchschnittlich arbeitsintensiv war. Das hatte aber den Vorteil, dass einige unserer jüngeren Wissenschaftler einen eigenen Weg einschlagen konnten. Ein Kreis französischer Mathematiker, unter dem Namen N. Bourbaki bekannt, veröffentlichte nach 1945 ein umfangreiches Werk über das Gesamtgebiet der reinen Mathematik. Diese hervorragende Veröffentlichung bildete für uns eine wesentliche Grundlage. Darin sind die Ergebnisse der Weltwissenschaft auf dem Gebiet der Mathematik eingeflossen. Narürlich  findet man solche Ergebnisse auch in anderen Büchern. Die Erarbeitung dieser neuen Ergebnisse musste jeder der jüngeren Mathematiker allein vornehmen, was viel Zeit beanspruchte. 

Prof. Barkhausen, der ein Physiker war, beherrschte sein Gebiet sowohl praktisch als auch theoretisch hervorragend. Seine Vorlesungen und Diskussionen im Praktikum waren für mich prägend. Im Praktikum lernten wir die Strukturen der physikalischen Felder kennen. Das war ein wesentlicher Grund, dass ich mich später zuerst mit elektrostatischen Feldern mathematisch auseinandersetzte, die vom physikalischen Standpunkt aus eine beachtliche Substanz aufweisen. Prof. Barkhausen sagte uns immer wieder, dass man in den elektrischen Schaltungen die Materialparameter kennen muss, um mathematische Untersuchungen anstellen zu können. Daher konnte ich mich nicht mit der Relativitätstheorie anfreunden, bei der die Lichtgeschwindigkeit  als größte Ausbreitungsgeschwindigkeit im Weltall angesehen wurde. Selbst in Labors wurden jetzt größere Ausbreitungsgeschwindigkeiten gemessen. Da für das Weltall ein fast vollständiger Informationsmangel vorliegt, wird man die physikalische Struktur des Weltalls kaum klären können! Vom mathematischen Standpunkt aus sind solche Untersuchungen meist richtig. 

Das Gravitationsfeld der Erde genügt ebenfalls der Laplace – Gleichung   ?u = ? (Potentialtheorie). Für die Laplace – Gleichung gab es seit Newton (Principia 1687) relativ viele Untersuchungen, so in der Neuzeit unter anderem von O. Perron (1923), N. Wiener (1924), Ch.-J. de la Vallée Poussin (1932), M. Brelot (ab 1932), H. Cartan (1944), G. Choquet (1954) und vielen anderen. Diese Untersuchungen sind unter dem Begriff „feine Analysis“ bekannt. Ausführungen dazu findet man im Buch  

Gottfried Anger: Inverse Problems in Differential Equations, Plenum 1990 

Bei Untersuchungen über lineare Randwertaufgaben, die als Randbedingungen Ableitungen höherer Ordnung enthalten, gelang mir die natürliche Kopplung zwischen Potential und moderner Mathematik (siehe etwa obiges Buch von G. Anger). Dieses war der Ausgangspunkt für die Untersuchungen der folgenden Jahre. Meine Doktorarbeit von 1957, die zur Beurteilung an Prof. M. Brelot nach Paris geschickt wurde, brachte mir 1958 ein Stipendium der Universität Paris ein, was in Dresden als Sensation angesehen wurde. Ohne diese moralische Unterstützung der französischen Mathematiker wäre ich frühzeitig gescheitert, denn neue Ideen werden oft nicht beachtet bzw. anerkannt.  

2. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin

1963 bekam ich am Institut für Reine Mathematik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Anstellung. Die Direktoren dieses Institutes waren Prof. Karl Schröter (1905- 1977, mathematische Logik), Prof. Heinrich Grell (1903 – 1975, Algebra), Prof. Hans Reichardt (1908 – 1991, Zahlentheorie, Geometrie), Prof. Willi Rinow (1907 – 1979, Topologie), Prof. Josef Naas (1906 – 1993,  Herausgeber des mathematischen Wörterbuches) und Prof. Hans-Jürgen Treder (1928 – 2006, theoretische Physik). Die ersten drei Mathematiker hatten einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität Berlin inne, Prof. Rinow einen Lehrstuhl an der Universität Greifswald. Das Institut für Angewandte Mathematik und Mechanik an der Akademie war selbständig. Ihr Direktor Prof. Kurt Schröder (1909 – 1978) hatte ebenfalls an der Humboldt-Universität Berlin einen Lehrstuhl inne und war eine Zeit lang Rektor dieser Universität. Obige Mathematik-Professoren verhielten sich auch vom politischen Standpunkt aus korrekt, sie hatten die schwierige Zeit 1933 – 1945 miterlebt. Dadurch existierte ein gutes Arbeitsverhältnis. Die meisten der jüngeren Mathematiker gehörten nicht der SED an, konnten sich trotzdem fachlich gut entwickeln und erhielten an verschiedenen Universitäten eine Professorenstelle, so Prof. Dieter Klaua (1965 Universität Leipzig),  Prof. Albrecht Pietsch (1966 Universität Jena),  Prof. Lothar Budach (1969 Humboldt-Universität Berlin), Prof. Jürgen Flachsmeier (1969 Universität Greifwald),  Prof. Wolfgang Tutschke (1969 Universität Halle), Prof. Gottfried Anger (1972 Universität Halle), Prof. Karl-Heinz Bachmann (1973 Universität Leipzig), Prof. Helmut Koch (1980 Humboldt-Universität Berlin), Prof. Konrad Gröger (1990 Humboldt-Universität Berlin), Prof. Ernst-Wilhelm Zink (1990 Humboldt-Universität Berlin). Nach  meiner Habilitation im Jahre 1966 bekam ich an der Akademie eine eigene Forschungsgruppe unter den Namen ‚Mathematische Analysis‘, die ich bis zu meiner Berufung an die Universität Halle im Jahre 1972 leitete. Die Mathematik hatte an der Preußischen Akademie eine lange Tradition. Auch die Redaktion des Zentralblattes für Mathematik war dort seit 1931 angesiedelt. 1977 erfolgte aus politischen Gründen eine Verlagerung der Redaktion nach West-Berlin. 

Ohne meine 9-jährige Tätigkeit an der Akademie hätte ich nicht die Ergebnisse über inverse Probleme erzielen können, da an einer Universität ein großer Teil der Arbeitskraft für die Betreuung von Studenten investiert werden muss. Prof. Treder informierte mich 1967 – seit dieser Zeit als Direktor des Astrophysikalischen Institutes in Potsdam-Babelsberg tätig – über das Buch von

M. M. Lavrentiev: Some Improperly Posed Problems in
Mathematical Physics, Springer 1967,  

welches 1962 in russischer Sprache in Novosibirsk erschienen war. Prof. Treder sagte bereits damals, dass diese Ergebnisse, falls sie richtig sind, zu wesentlichen Veränderungen in der Physik führen werden. Jetzt haben sich seine Vermutungen voll bestätigt. Am Institut für Reine Mathematik der Akademie gab es regelmäßig Vorträge und Diskussionen. So lernte ich unter anderem die Grundstrukturen der mathematischen Logik kennen, speziell die grundlegenden Aussagen von Kurt Gödel aus dem Jahre 1930. Man findet den Lebensweg von Kurt Gödel in dem Buch

Rebecca Goldstein: Kurt Gödel – Jahrhundertmathematiker und
großer Entdecker, Piper 2005,  

ausführlich dargestellt. 

Im Jahr 1969 organisierte ich an der Akademie in Berlin eine große internationale Tagung über ‚Elliptische Differentialgleichungen‘, an der führende Vertreter der Welt teilnahmen. Die Vorträge dazu wurden 1970 im Akademie-Verlag Berlin veröffentlicht. Selbst nach 40 Jahren wird dieser Band im Internet noch zum Kauf angeboten. Prof. A. V. Bitsadse (damals Novosibirsk), der an dieser Tagung teilnahm, schickte mir einen Kolloquiumsband, der aus Anlass des 60. Geburtstages von S. L. Sobolev (Novosibirsk) 1970 mit dem Titel ‚Partielle Differentialgleichungen‘, veröffentlicht wurde und in russischer Sprache die wichtige Arbeit  

•A.    N. Tikhonov, V. K. Ivanov, M. M. Lavrentiev:
Nichtkorrekt gestellte Aufgaben (14 Seiten)

enthielt,  mit welcher ich mich intensiv auseinandersetzte. 1972 weilte ich 3 Monate in Moskau und Novosibirsk. Dort lernte ich weitere Mathematiker, die inverse Probleme studierten, kennen. Zur damaligen Zeit waren solche Probleme, obwohl sie das natürliche Bindeglied zu den Anwendungen darstellen, im internationalen Rahmen praktisch unbekannt. Vermutlich hatte die Raumfahrt das Gebiet der inversen Probleme wesentlich vorangetrieben, da die automatischen Raumsonden Messwerte automatisch und stabil interpretieren müssen. Meist misst man Mittelwerte über die atomaren Strukturen, die vom mathematischen Standpunkt aus (direkte Aufgabenstellungen) sehr gute Eigenschaften besitzen. Der größte Teil der mathematischen Physik beschäftigt sich mit solchen Problemen. Wenn man jedoch von den Mittelwerten der Messwerte punktweise in das Innere der Materie schließen will, und das sind die zentralen Aufgaben der Physik, muss man die guten Eigenschaften der Messwerte zerstören. Das führt auf unstetige Operationen, die nur mit zusätzlichen Annahmen über die Messwerte verwendet werden können. Dieser Sachverhalt ist fast allen Wissenschaftlern unbekannt, was in der medizinischen Diagnostik zu Geisterbildern führen kann. Hieraus folgen viele Fehldiagnosen bis hin zu tödlichem Ausgang (siehe meine Homepage www.ekkehard-friebe.de/inverse.pdf .)

An beiden mathematischen Instituten der Akademie wurde intensiv Forschung betrieben. Ein Teil dieser Kollegen hielt Vorlesungen an der Humboldt-Universität Berlin. In einem gewissen Sinn bildeten die mathematischen Einrichtungen von Akademie und Universität eine  fachliche Einheit. Aus meiner Forschungsgruppe sind unter anderem Prof. Günther Wildenhain (ab 1972 an der Universität Rostock tätig) und Prof. Bert-Wolfgang Schulze (ab 1991 an der Universität Potsdam) hervorgegangen. Sie hatten 1977 das Buch

Methoden der Potentialtheorie für elliptische Differentialgleichungen
beliebiger Ordnung,
Akademie-Verlag Berlin,

veröffentlicht.

Prof. Arno Langenbach von der Humboldt-Universität studierte von 1948 – 1952 Mathematik und Mechanik an der Universität St. Petersburg. Nach seiner Rückkehr an die Humboldt-Universität Berlin beschäftigte er sich mit dem zentralen Gebiet der nichtlinearen Differentialgleichungen, auf dem er und seine Schüler wichtige Ergebnisse erzielten. Man findet vieles davon in dem Buch seiner Mitarbeiter  

H. Gajewski, K. Gröger, K. Zacharias: Nichtlineare Operatorengleichungen,
Akademie-Verlag, Berlin 1974.  

Prof. Langenbach erhielt 1965 eine Professur am Mathematischen Institut der Humboldt-Universität Berlin. Sein Schüler Prof. H. Gajewski betrachtete zusammen mit anderen Wissenschaftlern Anwendungen der Mathematik auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Ohne Prof. Langenbach wären die wichtigen Ergebnisse über nichtlineare Differentialgleichungen in Ost-Berlin nicht entstanden. 

Nach 1968 wurden beide mathematischen Institute der Akademie zusammengelegt zum Institutskomplex Mathematik und nach der Emeritierung von Prof. Karl Schröter im Jahre 1970 wurde der Institutskomplex das Zentralinstitut für Mathematik und Mechanik. Auf diese Weise hatte man eine Leitungsebene im Sinne des DDR-Staates und konnte so Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Prof. Karl Schröter versuchte immer den verwaltungsmäßigen Eingriff von oben abzuschwächen. 

Die Regierung verlangte jedoch mehr Anwendungen der Mathematik auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Der neue Leiter des Zentralinstitutes für Mathematik, der ein reiner Mathematiker war und aus Jena kam (vorher Humboldt-Universität Berlin) und in Jena auf dem Gebiet der Physik schwer nachvollziehbare Entscheidungen für das Verhältnis Theorie – Praxis getroffen hatte, arbeitete auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie, ohne jegliche Kenntnisse der Anwendungen. Das ist oft die Situation auf dem Gebiet der Mathematik. Ich habe immerhin 40 Jahre intensiv Mathematik und deren Anwendungen betrieben, um dieses Verhältnis einigermaßen zu verstehen. 

Im Sommer 1972 besuchte ich in Brünn (Tschechien) die Tagung EQUADIFF und trug dort zum ersten Mal über inverse Probleme vor. Zufällig hatte der Schwiegersohn von Prof. Gerhard Fanselau (1904 – 1982), ein Chemiker, das Programm der Tagung erhalten. Daraufhin schrieb mich Prof. Fanselau an. Hieraus ergaben sich von 1972 – 1981 intensive Gespräche über inverse Probleme. Prof. Fanselau war früher der Direktor des Geomagnetischen Institutes in Potsdam, jetzt Teil des GeoForschungsZentrums Potsdam. Dieser Kontakt war wesentlich für meine weiteren Untersuchungen auf dem Gebiet der inversen Probleme. Auf diese Weise habe ich auch andere Wissenschaftler in Potsdam kennengelernt. Insgesamt kann man diese Kontakte als sehr wichtig bezeichnen.  

3. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Mein Wechsel an die Universität Halle erfolgte problemlos. Ich hatte nur einen Antrag für eine Professorenstelle zu schreiben. Ein Kollege, der in St. Petersburg studiert hatte, erhielt meine Stelle an der Akademie. Für mich war die Arbeit an der Universität Halle eine ideale Ergänzung zu meiner bisherigen Tätigkeit. Dort lernte ich sehr viel von Biologen, Medizinern und anderen Naturwissenschaftlern. Weitere wichtige Informationen kamen auch von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (jetzt Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina) in Halle, die alle zwei Jahre eine große Tagung veranstaltete und außerdem regelmäßig Vorträge zu wichtigen aktuellen Fragestellungen durchführte. Jetzt ist die Leopoldina zuständig für die Koordinierung der Wissenschaft der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ausland, hat also eine wichtige Leitungsfunktion. Im Jahre 1979 organisierte ich an der Universität Halle eine große internationale Tagung über Inverse Probleme, die man als erste Tagung auf diesem Gebiet zwischen Ost und West ansehen konnte. Der Kolloquiumsbericht  

Gottfried Anger: Inverse and Improperly Posed Problems in Differential Equations,
Akademie-Verlag, Berlin 1979  

wird im Internet, unter anderem auch von Buchhandlungen in Asien, immer noch angeboten. Er wurde mehrfach nachgedruckt. Im Jahre 1978 organisierte ich zusammen mit Prof. Rolf Rösler (Bergakademie Freiberg) in Freiberg/Sachsen – als Vorläufer obiger Tagung – eine große Sommerschule mit dem Titel  

Die moderne Potentialtheorie als Grundlage der 
inversen Probleme in der Geophysik

Geodätische und Geophysikalische Veröffentlichungen, 
Reihe III, Heft 45 (1980). 

 Dieser Band enthält meine Vorlesungen Lectures on Potential Theory and Inverse Problems (81 Seiten). 

Des weiteren organisierte ich zusammen mit Kollegen in Potsdam und der Freien Universität Berlin 1993 in Potsdam eine weitere große internationale Tagung. Der Kolloquiumsbericht  

G. Anger, R. Gorenflo, H. Jochmann, H. Moritz, W. Webers (eds.):
Inverse Problems: Principles and Applications in Geophysics,

Technology and Medicine, Akademie-Verlag, Berlin 1993  

erschien bereits zur Tagung und wurde mehrfach nachgedruckt und  international in zahlreichen Ländern vertrieben. Einer der Organisatoren obiger Tagung war der Geodät Prof. Helmut Moritz (TU Graz, Präsident der International Union of Geodesy and Geophysics), der die inversen Probleme für die zentralen Aufgabenstellungen der mathematischen Physik hält. Man kann diese Ergebnisse nachlesen in  

Gottfried Anger and Helmut Moritz: Inverse Problems and Stability – Basic Ideas and Applications, in
www.inas.tugraz.at/forschung/InverseProblems/AngerMoritz.html

 oder in  

Helmut Moritz: Große Mathematiker und die Geowissenschaften –
Von Leibniz und Newton bis Einstein und Hilbert,
in Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 2009.

 Den meisten Physikern und Medizinern ist die vollständige Leistungsfähigkeit der messenden Physik für die komplexen Systeme der Natur unbekannt. Man findet prinzipielle Bemerkungen dazu in der Arbeit  

Gottfried Anger: Komplexität und Interpretation der Natur -Konsequenzen für die Zukunft,
in Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 2009

 und der Homepage des Autors. 

Am Fachbereich Mathematik der Universität Halle-Wittenberg gab es die klassischen Teilbereiche Algebra und Geometrie, Analysis und Numerische Mathematik. Am Fachbereich Mathematik entstanden die Spezialklassen Mathematik, an welchen Schüler der 11. und 12. Klasse zum Abitur geführt wurden. Solche Spezialklassen gab es auch an anderen Universitäten. Dadurch hatten die Universitäten gut vorgebildete Studenten. Meine Emeritierung erfolgte im Jahre 1993.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zur geschichtlichen Entwicklung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Universität Wittenberg wurde 1502 vom Kurfürsten Friedrich III. des Weisen in der Stadt Wittenberg gegründet. Die Gründung galt der Ausbildung von Juristen, Theologen und Medizinern. Im Jahre 1508 wurde der Augustinermönch Martin Luther an diese Universität berufen. Er übersetzte auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche unter Verwendung der Meißener Kanzleisprache. Dadurch ist eine einheitliche deutsche Schriftsprache entstanden. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich diese Universität zu einem der wichtigsten theologischen Zentren Europas. Im Jahr 1694 entstand auf Bestreben Friedrich III. (Kurfürst von Brandenburg und später König Friedrich I. in Preußen) im südlichen Herzogtum Magdeburg die alma mater hallensis. Napoléon Bonaparte ließ die Universität Wittenberg 1813 schließen. Mit dem Wiener Kongress 1815 kamen die sächsischen Gebiete um Wittenberg zu Preußen. Infolgedessen wurde die Universität von Wittenberg nach Halle verlegt und 1817 die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg gegründet. Der Einfluss der Geisteswissenschaften der Universität Halle-Wittenberg und der Franckeschen Stiftungen in Halle erstreckte sich bis Indien. Man findet wichtige Bemerkungen über die Universität in www.uni-halle.de  und die geschichtliche Entwicklung in http://de.wikipedia.org/wiki/Martin-Luther-Universität%C3%A4t_Halle-Wittenberg .

Einer der bekanntesten Mathematiker der Universität Halle-Wittenberg ist Georg Cantor (1845 – 1918), der Schöpfer der Mengenlehre. Kollegen in Halle, die sein Lebenswerk aufgearbeitet haben, sagten mir, dass Cantor in Halle niemals eine Vorlesung über Mengenlehre gehalten hat. Und dabei bildet die Mengenlehre die Grundlage für die meisten mathematischen Untersuchungen. In seiner Doktorarbeit von 1867 an der Universität Berlin schrieb Cantor auf der ersten Seite den grundlegenden Satz: In re matematica ars proponendi questionem  pluris faciendum est quam solvendi (In der Mathematik ist die Kunst des Formulierens von Problemen wichtiger als die Kunst des Lösens).

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