Der Glaube an die Weltmaschine

Der Glaube an die Weltmaschine 
Zur Aktualität der Kritik Hugo Dinglers am physikalischen Weltbild
von Holm Tetens


Quelle:
TETENS, H. (1984): „Der Glaube an die Weltmaschine – Zur Aktualität der Kritik Hugo Dinglers am physikalischen Weltbild“, aus: Janich, P. (Hrsg.): „Methodische Philosophie – Beiträge zum Begründungsproblem der exakten Wissenschaften in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler“, Bibliographisches Institut Mannheim, Wien, Zürich

Zitat:
Am Ende seines Wissenschaftlerlebens zieht der Physiker Max Born ein Fazit der Naturwissenschaften, das vernichtender kaum hätte ausfallen können: „Die politischen und militärischen Schrecken sowie der vollständige Zusammenbruch der Ethik, deren Zeuge ich während meines Lebens gewesen bin, sind keine Symptome einer vorübergehenden, sozialen Schwäche, sondern eine notwendige Folge des naturwissenschaftlichen Aufstiegs“ [1].

Zu den „politischen und militärischen Schrecken“, die Max Born so eng mit den Naturwissenschaften verbunden sieht, sind inzwischen unübersehbar die ökologischen Bedrohungen hinzugekommen. Und dieses Syndrom des Schreckens hat die Wissenschaften in eine gesellschaftliche Autoritätskrise gestürzt, die jeder unmittelbar erleben kann, der schon einmal in einer Bürgerinitiative gegen Kernkraftwerke oder Aufrüstung mitgearbeitet hat.

Aber noch erstaunlicher ist es, daß Born ganz ausdrücklich für den „Bruch in der menschlichen Zivilisation“ die „Entdeckung der naturwissenschaftlichen Methode“ verantwortlich macht [2]. Worin besteht denn diese Methode, wann wurde sie denn „entdeckt“ und womit wurde denn da „gebrochen“?

Bei der Beantwortung dieser Fragen wollen wir bei der Physik bleiben, hat sie doch den anderen Naturwissenschaften methodologisch den Weg gewiesen. Das methodologisch Bahnbrechende der „neuen“ Physik aber war und ist das messende Experiment. Dies wurde zwar nicht „entdeckt“, wie Born sich ausdrückt, wohl aber methodologisch konzipiert, philosophisch reflektiert und wissenschaftspolitisch durchgesetzt ge­gen konkurrierende Weisen der Naturerfahrung in jener großen Umbruchsphase zwi­schen dem Spätmittelalter und der Neuzeit [3].

Einer von denjenigen, die Pionierarbeit dabei leisteten, die Konzeption einer quantifizierenden Experimentalwissenschaft zu entwerfen und als neuen Erfahrungstypus zu propagieren, war Roger Bacon. Von ihm lesen wir bei Friedrich Wagner, der Bacon zum Teil wörtlich zitiert: „Er hat als erster das systematische Experiment und das Quantifizieren in die Naturwissen­schaft eingeführt, indem er diese auf das Prinzip der Reduktion der Qualität auf die Quantität, der Abstraktion und Isolation der Erscheinungen und auf das Experiment begründete, wenn er auch selber noch kaum zu messen verstand. . . . Als Mittel zur Macht über die Natur, ja als Mittel zur Macht schlechthin, gewinnt sie den höchsten Stellenwert unter den Wissenschaften. … In einem Weltenaugenblick, in dem die Reichskircheneinheit des Mittelalters im Interregnum zerfiel und ein neuer Mongo­leneinbruch Europa zu überfluten begann, riet Roger Bacon dem Papst, …, die Welt durch diese Wissenschaft zu missionieren und dann durch sie seine Weltherrschaft zu errichten. Da er die Endzeit schon in den Tataren heraufkommen sah als den Vorboten des Antichrist, der seinerseits droht, durch neue Wissenschaft die Erde zu unterwerfen, müsse die Christen in Bacons Sicht schon um ihrer Notwehr willen ein Wissen beherrschen, das ihnen Reichtum und jene Waffen schenkt, die ihnen die Weltherrschaft sichern“ [4].

Welche Visionen einer unentrinnbaren Vernichtungsmaschinerie beflügelten die ersten methodologischen Entwürfe einer ExperimentaIwissenschaft noch bevor diese dann in die Tat umgesetzt wurde! „Bacons Vernichtungswaffen sind nur für den Kampf ge­gen die Ungläubigen bestimmt . . . Dies gilt für seine Verbrennungsspiegel, die ganze Heere und Städte vernichten, wie für jene Kombination von Strahlenwaffen mit „biologischen“ Gift- und Verseuchungswaffen, die durch ihre Wolken von Gift und Ver­seuchungsstoffen den Gegner vernichtend, eine Vorwegnahme der modernsten Kampfmittelkombinationen sind. Es gilt vor allem für seine biologischen Zukunftwaffen, die durch die Luft in die Physis der Völker eingreifen und „ohne Zwang“ deren Willen lenkend über „die Seelen wirksam verfügen“, so daß die Menschen Sit­ten, Leidenschaften und Willensregungen ändern nach eines Andern Willen – und zwar nicht nur Einzelne, sondern ganze Heere, Städte und ganze Bevölkerungen [5]“.

„Wissen ist Macht“, und naturwissenschaftliches Wissen ist Macht über die Natur. Francis Bacon, der philosophische Herold dieser neuen Definition von Wissen. wußte und sprach es deutlich aus, daß man für die Gewinnung eines solchen Wissens aus methodischen Gründen von Anfang an nicht auf verändernde Eingriffe in natürliche Prozesse verzichten und man sich dabei wohl kaum auf das damals ja noch mehr oder weniger geltende Erkenntnisideal der klassisch-antiken Philosophie berufen konnte, das Bacon selber als „felicitas contemplativa“ charakterisierte. Nein, Bacon ver­suchte den Affront gegen die „Philosophie der Alten“ nicht zu vertuschen, er sprach die handwerkliche Grundlage des Experiments offen als „vexatio artis“, als „Mißhandlung der Natur“ an [6].

Ist es nicht in der Tat auffällig, daß bei der Reflexion auf die experimentelle Methode in der Physik sofort Begriffe wie „Macht über die Natur“, „Mißhandlung der Natur“, „Maschine“, „Vernichtungsmaschinerie“ fallen? Liest sich das nicht wie eine Bekräftigung der erstaunlichen Altersbemerkungen von Born?

Werfen wir einen Blick auf das gängige Selbstverständnis der Physiker selber und auf die vorherrschende Wissenschaftstheorie der Physik. Nun, dort hört sich das weniger gefährlich und dramatisch an, die Wissenschaftswelt ist dort in Ordnung, deuten doch die Physiker ihre Tätigkeit so:

– die Physik dient dem Ziel, die Natur an sich zu beschreiben und dadurch zu erklären, daß die in ihr herrschenden Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt werden; – von diesem Ziel her sind die Physiker „reiner Wahrheitssuche“ allein verpflichtet; – die Technik hingegen ist eine methodisch nicht von vornherein in der Physik angelegte, vielmehr nachträgliche Anwendung „reiner“ Forschungsergebnisse der Physik und anderer Naturwissenschaften.

Die Wissenschaftstheorie, die diese Physikdeutung unterschreibt, schweigt sich auffallend aus über das Experiment. Nicht daß sie es vergäße zu betonen, daß die Physik eine Experimentalwissenschaft ist, aber doch hält sie sich mit Vorliebe in einem „platonischen Ideenhimmel“ mathematischer Strukturen auf, und nur selten findet sie den Weg zurück in die „Niederungen“ der Experimentiertechnik. Das war schon früher so ähnlich: die Handwerker und Künstleringenieure der beginnenden Neuzeit redeten in ihren Schriften angesichts des fortbestehenden Legitimationsdruck durch das Theorieideal der klassischen Philosophie immer etwas taktisch. „Bis in das 17. Jahrhundert hinein werden die Hinweise auf eigene Versuche und kontrollierte Beobachtungen mit Entschuldigungen eingeführt, und die von Handwerkern und lngenieuren verfaßten Traktate werden in der Regel mit Entschuldigungen über die Unfähigkeit zu klassi­scher Begrifflichkeit und Argumentation eingeleitet.“ [7]

Der wissenschaftsideologische Grund dafür, das Experiment etwas schamhaft zu übergehen, um den tatsächlichen Bruch der experimentellen Methode mit dem klassischen Erkenntnisideal und seinem Wahrheitspathos vergessen zu machen, hat sich bis in unsere Tage forterhalten und hat dazu geführt, daß das Experiment in den wissenschaftstheoretischen Analysen ein Kümmerdasein fristet. Denn kann man sich weiterhin auf das klassische Erkenntnisideal berufen, so kann man trotz der Experimentiertechnik einen methodologischen Hiatus zwischen „reiner“ naturwissenschaftlicher Forschung und ihrer „nachträglichen“ Anwendung in der Technik aufreißen, der wiederum reine Naturwissenschaft von der Mitverantwortung für alle „negativen Folgen“ der Technik entlastet.

Fragen wir danach, wie es denn gelingt, das Experiment dem klassischen Erkenntnisideal einzuverleiben, sehen wir, daß dem eine Deutung zupaßkommt, die das Experimentieren als ein nicht veränderndes Beobachten und die dabei verwendeten Apparate als bloße Verlängerungen der natürlichen menschlichen Sinnesorgane zu Naturobjekten verfälscht. Ich kann hier nicht darauf eingehen, wie ein Konglomerat aus klassisch-griechischer Erkenntnismetaphysik und neuzeitlichem Empirismus tatsächlich eine solche Deutung des Experiments zustande bringt. Ich will mich auf ein suggestives Bild beschränken: Alle experimentellen Handlungen unter Zuhilfenahme von Apparaten werden in ihrem Verhältnis zum „eigentlichen Erkenntnisakt“ damit verglichen, wie sich das Aufsetzen einer Brille zum Lesen in einem Buch verhält. Um im „Buch der Natur“ zu lesen, setzen wir uns eben eine mathematisierte Apparatebrille auf. Und, bleiben wir einmal im Bild, solange wir forschen, blättern wir nur immer wieder eine neue Seite auf. Erst wenn wir Technik machen und industriell produzieren, kritzeln wir eigene Veränderungen in das Buch und geben es immer unleserlicher an die nächste Generation weiter.

Aber stimmt das überhaupt, daß das Funktionieren unserer technischen Artefakte methodisch vorgängig die Kenntnis der „Gesetzmäßigkeiten in der Natur“ voraussetzt? Zur Antwort möchte ich eine These formulieren und in freiem Anschluß an ähnliche Überlegungen DingIers begründen:

Aus methodischen Gründen kann die Physik einer Orientierung auf Apparate gar nicht entraten. Die mathematisierten Gesetzesaussagen in der Physik werden methodisch primär am Studium von Apparaten gewonnen und gelten uneingeschränkt auch nur von ihnen. Das an Apparaten gewonnene Wissen wird erst danach dazu herangezogen, hypothetisch-modellhaft Naturerscheinungen außerhalb der Laboratorien zu erklären und vorherzusagen.

Zitatende

 Lesen Sie bitte hier weiter!

Ergänzend verweise ich noch auf folgende Internetveröffentlichung:

Hugo Dingler: „Gesammelte Werke“

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