Das verdrängte Phänomen

Im Herbst 1998 erschien in „GEGENWORTE – Zeitschrift für den Disput über Wissen“,
herausgegeben von der „Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“,
folgender, zukunftsweisender Aufsatz: 
Marco Finetti und Armin Himmelrath:  „Das verdrängte Phänomen“.

Nachstehend bringe ich einen Auszug aus diesem Aufsatz, der bereits im Internet verfügbar ist: 

Zitat:

Marco Finetti, Armin Himmelrath: DAS VERDRÄNGTE PHÄNOMEN

Vom jahrzehntelangen Nicht-Umgang deutscher Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen mit Betrug und Fälschung in den eigenen Reihen

Als im Frühling des Jahres 1997 die ersten Umrisse dessen ans Licht kamen, was seitdem als ‚Fall Herrmann/Brach‘ bekannt ist und den bisher größten Fälschungsskandal der deutschen Wissenschaft markiert, reagierte die scientific community hierzulande mit Fassungslosigkeit und ungläubigem Staunen. ‚Entsetzt‘, ‚bestürzt‘ und ‚empört‘ zeigten sich Hochschulen, Forschungsinstitute, Wissenschaftsorganisationen und Wissenschaftler über die offensichtlich großangelegten Manipulationen, der beiden Krebsforscher, die beinahe täglich neue Dimensionen annahmen. „Ich fühle mich betrogen und beschämt“, bekannte Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), „ich fühle mich vor allem für die gesamte Gemeinschaft der Wissenschaftler beschämt“. Zum Schock hinzu kam die Furcht vor den Konsequenzen: Einen „ungeheuer großen Schaden im Vertrauen der Öffentlichkeit“, befürchtete schon bald Prof. Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, und tatsächlich dauerte es nicht lange, da riefen Zeitungskommentatoren ihren Lesern die Abhängigkeit der deutschen Spitzenforschung von den Geldern der Steuerzahler in Erinnerung, warfen Staatsanwälte neugierige Blicke hinter die Kulissen des Forschungsbetriebs, räsonierten Politiker öffentlich über mögliche institutionelle Veränderungen, mit denen sich ähnliche Vorkommnisse künftig vermeiden lassen könnten.

Die Schockierten legten eine große Entschlossenheit an den Tag: Umfassende Aufklärung wurde angekündigt, und noch bevor die Öffentlichkeit den Skandal in Gänze erfassen konnte, hatten sich eilends eingesetzte Untersuchungskommissionen: daran gemacht, diese Aufklärung zu leisten – energisch und ohne falsche Bescheidenheit: „Wir sind mitten in der Kehrwoche“, brachte erneut Hubert Markl die Dinge auf den Punkt, „wir werden nach dem, was jetzt passiert ist, den Besen schärfer schwingen, als wir es sonst vielleicht getan hätten“. All diese Reaktionen waren voll und ganz berechtigt, und das nicht nur wegen der Vorfälle, die ihnen zugrunde lagen. Denn was da Mitte März 1997 zutage trat, war nicht nur der Beginn des bislang größten Betrugs- und Fälschungsskandals in der Geschichte der deutschen Wissenschaft, sondern auch das Ende einer ebenso gern gepflegten wie verhängnisvollen Fiktion, mit der Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen hierzulande sich selbst und die Öffentlichkeit jahrzehntelang in die Irre geführt und in falsche Sicherheit gewiegt hatten.

Welche Rolle spielen Betrug und Fälschung in der deutschen Wissenschaft? Zugegeben: Es waren nicht viele, die vor dem ‚Fall Herrmann/Brach‘ diese Frage stellten. Wer dies jedoch tat, erhielt von Spitzenvertretern des hiesigen Wissenschaftssystems wie von Wissenschaftlern nahezu immer dieselbe Antwort: So etwas gibt es bei uns praktisch nicht. Die Wortwahl mochte dabei durchaus variieren: Mal war von einem ‚vernachlässigenswerten Phänomen‘ die Rede, mal von ‚einer Erscheinung, die fast nicht ins Gewicht fällt‘. Der Tenor aber war stets der gleiche: Abgeschriebene, geschönte, gefälschte oder frei erfundene Forschungsarbeiten und -ergebnisse waren für die deutsche Wissenschaft vor dem Frühjahr 1997 kein Thema – und schon gar kein Problem. Allenfalls kleinere Verfehlungen einzelner Forscher habe es hin und wieder gegeben, räumten die Auskunftswilligeren der Gesprächspartner ein, und dafür stand dann unterm Strich das ‚praktisch nicht‘. Doch auch diese Ausnahmefälle seien ohne Bedeutung geblieben. Auf der Landkarte der wissenschaftlichen Manipulation war Deutschland der weiße Fleck. Dies jedenfalls war das Bild, das Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen hierzulande präsentierten, über Jahrzehnte hinweg und mit Erfolg. Doch dieses Bild war falsch. Oder vielmehr: Es war selbst gefälscht.

(Zitatende)

 
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