Kritische Betrachtungen
zur klassischen Elektro-Statik

Ekkehard Friebe, München


Quelle:

FRIEBE, E. (1984): "Kritische Betrachtungen zur klassischen Elektro-Statik", Zeitschrift "Wissen im Werden", Zwingendorf, H.2 (1984), S.3 - 7




1. Coulomb'sches "Gesetz"

Dieses "Gesetz" wurde von Charles Augustin de Coulomb (1785) in Analogie zum Newton'schen Gravitations-Gesetz formuliert und hat folgende Form:

F = K1·q1·q2 / r²                       (1)

Es besagt: Die zwischen zwei elektrischen Ladungen q1 und q2 unterschiedlicher Polarität wirkende mechanische Anziehungskraft F ist proportional (Proportionali­tätsfaktor K1 ist abhängig vom verwendeten Maßsystem) dem Produkt der Größen der beteiligten Punktladungen und umgekehrt proportional dem Quadrat des Abstandes r zwischen den Schwerpunkten der beiden Punktladungen. Diese Beziehung unterliegt - was vielfach übersehen wird - zwei grundsätzlichen Einschränkungen:

a) Die beiden Ladungen müssen unterschiedliche Polarität besitzen.

b) Die beiden Ladungen müssen betragsmäßig gleich groß sein.

Ferner ist eine weitere Annahme zugrunde gelegt: Es soll sich um Punktladungen (Elementarladungen) handeln, deren räumliche Abmessungen vernachlässigbar klein gegenüber dem Abstand r sind.

Die Einschränkungen a) und b) sind notwendig, da die Erfahrung zeigt, daß die sich zwischen elektrischen Ladungen ausbildenden elektrischen Feldlinien (Untersuchungen von Faraday, 1836) stets bei Ladungen unterschiedlicher Polarität enden und daß es experimentell nicht möglich ist, Ladungen der einen Polarität allein zu erzeugen, ohne daß gleichzeitig eine gleich große Menge von Ladungen der anderen Polarität entsteht. Diese Einschränkungen wurden bei späteren Theorien (Elektronen-Theorie und darauf aufgebaute Theorien) teilweise irrtümlich über-sehen.

Die Forderung nach Punktladungen erschwert die experimentelle Überprüfung der Coulomb'schen Beziehung. Es wird zwar heute allgemein angenommen, daß eine zweifelsfreie experimentelle Bestätigung dieser Beziehung vorläge. Dieses ist aber nicht der Fall. Hierauf hat schon Maxwell (1883) hingewiesen. Maxwell hat gleichzeitig unter Annahme zusätzlicher Hypothesen eine mathematisch unterbaute Deutung gegeben, welche die Schlüssigkeit der Experimente beweisen sollte. Die zusätzlichen Hypothesen sind aber - soweit die Recherchen ergeben haben - niemals experimentell überprüft worden. Die angesprochene Problematik wird noch deutlicher unter Hinzuziehung der folgenden Ausführungen.



2. Theorie des elektro-statischen Feldes

Bringt man zwischen die Platten eines geladenen Kondensators eine negative elektrische Ladung, so wird diese durch eine elektro-statische Kraft in Richtung auf die positiv geladene Kondensatorplatte hin angezogen. Diese Beobachtung wird mathematisch wie folgt formuliert (Vektoren sind unterstrichen):

F = K2·q3·E                       (2)

In Worten: Der Vektor der Kraft F, der auf die negative elektrische Ladung q3 einwirkt, ist proportional (Proportionalitätsfaktor K2 ist abhängig vom verwendeten Maßsystem) dem Produkt aus dem Betrag der Ladung q3 und dem Betrag der zwischen den Kondensatorplatten herrschenden elektrischen Feldstärke E. Er hat die gleiche vektorielle Richtung wie der Vektor der elektrischen Feldstärke E. Diese Formel stellt eine gute Näherung dar, sie läßt aber außer Betracht, daß die elektrische Feldstärke E von zwei Ladungen q1 und q2 erzeugt wird (vgl. Coulomb'sches "Gesetz"), die unter sich betragsmäßig gleich und entgegengesetzt gepolt sind und daher in echter Wechselbeziehung stehen, während die Ladung q3 notwendigerweise - sofern die Aussagen von Faraday zutreffen - mit einer gegengepolten Ladung q4 in Wechselbeziehung stehen muß, deren räumliche Zuordnung zu q3 vollkommen außer acht gelassen wird.

Bei einer normalen Versuchsanordnung, bei der die Ladung q3 derjenigen Span-nungsquelle entnommen wird, an die auch der Kondensator fest angeschlossen ist, wird sich die Gegenladung q4 (positive Ladung) durch Influenz auf der positiven Kondensatorplatte ausbilden und in der Tat von dort aus eine elektro-statische Anziehungskraft auf die zwischen den Kondensatorplatten befindliche negative Ladung q3 ausüben. Anders liegen die Verhältnisse jedoch, wenn die negative Ladung q3 von einer Spannungsquelle entnommen wird, die von den Kondensator-platten isoliert ist. Dann wird die positive Ladung q4 auf der genannten Spannungs-quelle verbleiben und von dort aus "ihre" Coulomb'sche Anziehungskraft auf q3 ausüben, die vollkommen unabhängig ist von der elektrischen Feldstärke E des Kondensators. Die Gleichung (2) ist daher im allgemeinen Falle unrichtig.



3. Kugelkondensator

Bei einem Plattenkondensator, dessen Plattenfläche sehr groß gegenüber dem Plattenabstand ist, beobachtet man parallel verlaufende elektrische Feldlinien, die senkrecht zur Plattenfläche stehen. Lediglich an den Randzonen der Platten verlau-fen die Feldlinien teilweise gekrümmt. Bei der genannten Voraussetzung ist der Einfluß dieser Randzonen vernachlässigbar. Eine exakte mathematische Behand-lung ist bisher jedoch nur bei einem Kugelkondensator möglich, der aus einer metallischen Kugel besteht, die durch eine metallische Kugelschale umgeben ist, so daß der radiale Abstand der gegenüberliegenden Metalloberflächen überall gleich groß ist. Die Kugel erhält beispielsweise eine negative Ladung, die Kugelschale die entsprechende positive Ladung. Der kugelsymmetrische Aufbau bringt zwingend einen kugelsymmetrischen elektrischen Feldverlauf mit sich. Im Hinblick auf das Coulomb'sche "Gesetz" (siehe Ziffer 1.) wurde richtig gefolgert, daß die elektrische Feldstärke E umgekehrt proportional zum Quadrat des Radiusvektors eines betrachteten Raumpunktes zwischen den beiden Metalloberflächen, bezogen auf den Kugelmittelpunkt, sei.

Überträgt man diese Annahme auf den Plattenkondensator, der in diesem Sinne einen differentiellen Ausschnitt aus einem Kugelkondensator mit sehr großem Kugelradius darstellt, so ergibt sich eine sehr gute Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment. Im Gegensatz zum Plattenkondensator ist jedoch der Kugelkondensator einer exakten experimentellen Überprüfung nicht zugänglich, da die innere Kugel von der Kugelschale vollkommen umschlossen ist. Macht man jedoch durch die Kugelschale eine kleine Bohrung, um eine Meßleitung an die innere Kugel anzuschließen, so entsteht längs dieser Meßleitung, vor allem in unmittelbarer Nachbarschaft der Bohrung, eine so starke Feldverzerrung, daß die mathematischen Voraussetzungen nicht mehr genügend genau erfüllt sind. Es muß daher unterstellt werden, daß das elektro-statische Feld des Kugelkondensators nicht exakt bekannt Ist. Unter dieser Voraussetzung kann das Feld aber auch so beschrieben werden, daß die elektrische Feldstärke E umgekehrt proportional ist zur ersten Potenz des Radiusvektors des betrachteten Raumpunktes oder gar zur nullten Potenz des Radiusvektors. Diese beiden Darstellungen stehen ebenfalls mit den experimentellen Befunden beim Plattenkondensator im Einklang.

Es sei daran erinnert, daß die Spannung des isoliert aufgestellten Plattenkondensators - im Bereich kleiner Plattenabstände - linear mit dem Plattenabstand ansteigt, die elektrische Feldstärke als Quotient aus Spannung zu Abstand somit konstant bleibt. Es sei ferner darauf hingewiesen, daß die elektrische Feldstärke eine auf eine Länge und nicht auf eine Fläche bezogene Größe ist, wie es beim Kugelkondensator stillschweigend vorausgesetzt wird. Schließlich ist zu beachten, daß durch Extrapolation der Formeln für den Kugelkondensator sich eine endliche Kapazität für eine Metallkugel ergibt, deren Gegenladung im Unendlichen liegt, obwohl diese Aussage der Erfahrung widerspricht.

Es erscheint also dringend erforderlich, daß die Aussagen der klassischen Elektro-Statik einer Überprüfung unterzogen werden, da sie die Grundlage der Elektronen-Theorie bilden. Diese Überprüfung ist vor allem notwendig, weil die Elektronen-Theorie ihrerseits die Basis der speziellen Relativitäts-Theorie ist, die in der heutigen Physik eine maßgebende Rolle spielt. Die spezielle Relativitäts-Theorie, die insbesondere auf Abraham, Cohn, Einstein, Hertz, Lorentz, Minkowski, Planck, Poincaré, Sommerfeld und Wien zurückgeht, wurde erstmalig im Jahre 1911 von Max Laue zusammenfassend dargestellt.




4. Literatur:

MAXWELL, J. C. (1883): "Lehrbuch der Elektricität und des Magnetismus". Deutsch v. Dr. B. Weinstein, Bd. I und II, Springer-Verlag, Berlin; insb. §§ 43, 54, 74

LAUE, M. (1911): "Das Relativitätsprinzip", Vieweg-Verlag, Braunschweig
(Dieses Buch enthält zahlreiche Literatur-Hinweise)


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