Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik
Wilfried Kuhn
Institut für Didaktik der Physik, Universität Gießen
Quelle:
KUHN, W. (1984):
Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik,
DPG-Didaktik-Tagungsband 1984, S. 1 - 25.
Hrsg.: Prof. Dr.
Wilfried Kuhn, Direktor des Instituts
für Didaktik der
Physik der Universität Gießen
Die Formulierung des
Themas Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik
sollte nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als könnten
diese beide Disziplinen in einfacher Weise in Verbindung gebracht
werden. Die Konjunktion will vielmehr ihre komplexen und sehr tief
gehenden Wechselbeziehungen bewußt machen und auf daraus
resultierende, vielfältige Konsequenzen für den
Vermittlungsprozeß physikalischer Erkenntnisse
verweisen.
1. Grundsätzliche Überlegungen
Wissenschaftstheorie
wie Didaktik entspringen dem kritischen Nachdenken über das
Faktum Wissenschaft.
Im Hinblick auf ihre Bezugswissenschaft -
in unserem Falle die Physik - nehmen sie die gleiche
erkenntnistheoretische Position ein. Diese ist gekennzeichnet sowohl
durch ihre sehr enge Verbindung, als auch zugleich durch eine
kritisch-reflektierende Distanz. Solcher Reflexion geht es beiden
Disziplinen um das zentrale Problem, die Prozeßstruktur
physikalischer Begriffs- und Theorienbildung zu erklären
und zu verstehen. Die dabei gewonnenen Einsichten sind
von grundlegender Bedeutung für den Lehr- und Lernprozeß
physikalischer Inhalte; denn erst nach eingehender
wissenschaftstheoretischer Analyse kann entschieden werden, worin
eigentlich das Wesentliche der Bezugsdisziplin besteht, und welche
Inhalte, bzw. welche methodischen Konzepte dementsprechend
Lehrgegenstände sein sollten.
Der Physikdidaktik fällt
dabei die sehr wichtige Aufgabe zu, in zwei grundsätzlich
verschiedenen Richtungen zu argumentieren und zu
überzeugen.
Physik-Pädagogen, die ihre Arbeit als
spezielle Anwendung allgemeiner Pädagogik oder
sozialwissenschaftlicher Lehren verstehen, glauben, ihre
corricularen Entscheidungen primär pädagogisch
- nicht selten unter dem korrodierten bildungspolitischen
Damoklesschwert endlos zu garantierender Chancengleichheit -
verantworten zu müssen. Für eine wissenschaftstheoretisch
intendierte Physik-Didaktik stellt sich die Frage, ob dabei denn auch
Wesentliches der Bezugsdisziplin, d.h. grundlegende, strukturelle
Einsichten in den physikalischen Erkenntnisprozeß vermittelt
werden, die sich nicht spielerisch, sondern nur durch
harte intellektuelle Anstrengungen erschließen, denen
oberflächlicher Zeitgeist gar nicht hold zu sein
scheint.
Aber auch in anderer Richtung ist Aufmerksamkeit
geboten, nämlich gegenüber jenen Fachspezialisten, die in
der Befangenheit ihres fachspezifisch verengten,
wissenschaftstheoretischen Verständnishorizontes im Lehr-
und Lernprozeß auftretende, schwierige begriffliche Probleme
mit erstaunlicher und zuweilen such peinlich wirkender Harmlosigkeit
ganz unwissenschaftlich erledigen, obwohl sie sich sonst gerne als
Gralshüter der Wissenschaftlichkeit
geben.
Wissenschaftstheoretisch Unreflektiertes von
Fachspezialisten plakativ und forsch ex cathedra verkündet,
macht es gerade intellektuell anspruchsvollen und kritischen Hörern
schwer, weil sie die Physik nicht nur handhaben, sondern
such verstehen wollen.
Wenn Fachspezialisten sich
gelegentlich veranlaßt sehen, wissenschaftstheoretisch Flagge
zeigen zu müssen, dann ist es meist die etwas zerschlissene
Standarte des logischen Empirismus oder die eines Induktionismus
BACONscher Prägung.
Hinter diesen Fahnen marschieren auch
Physikdidaktiker, die meinen, in jener Phalanx Gesinnungsgenossen zu
haben, die ihren rein empirischen Arbeiten, orientiert an
sozialwissenschaftlichen Erhebungsmethoden, wissenschaftliche
Dignität schwerlich versagen könnten. Als
Organisatoren von effektiven Lernprozessen - wobei immer
zu bedenken ist, daß man mit optimalen Methoden und unter
Einsatz modernster Medien auch ganz Unwesentliches vermitteln kann -
ist ihnen nicht selten die Anerkennung auch jener sicher, denen aus
oben genannten Gründen wissenschaftstheoretisch orientierte
Physikdidaktik nicht ohne Vorsicht und Zurückhaltung begegnet.
2. Kritik veralteter wissenschaftstheoretischer Positionen
Die Zusammenhänge
zwischen Physikdidaktik, Wissenschaftstheorie und ihrer
Bezugsdisziplin sollen nun näher beleuchtet werden.
Ein
Blick in Lehrbücher der Physik zeigt, daß häufig ein
konsistentes wissenschaftstheoretisches Konzept überhaupt nicht
vorhanden ist, oder unbewußt bzw. bewußt veraltete
wissenschaftstheoretische Positionen vertreten werden. Gerne peitscht
man die toten Pferde eines naiven Positivismus, Instrumentalismus und
Operationalismus. Wen wundert es dann, wenn Vertreter einer
instrumentalisch orientierten Didaktik ihre Thesen mit Argumenten
veralteter wissenschaftstheoretischer Standorte zu
legitimieren versuchen. Dabei werden meist folgende Behauptungen
kolportiert:
1. Beobachtung
und Experiment sind alleinige Quellen der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis.
2. Naturwissenschaftliche Begriffsbildungen
werden nur aus Beobachtungen und Experimenten gewonnen.
3.
Naturwissenschaftliche Begriffe müssen durch operationale
Definitionen exakt festgelegt und veranschaulicht werden.
4.
Hypothesenbildung erfolgt ausschließlich aufgrund empirischer
Erfahrung.
5. Naturwissenschaftliche Gesetze und
Theorien lassen sich direkt durch Verallgemeinerung spezieller
empirischer Daten im Prozeß der generalisierenden Induktion
finden.
6. Theorien sind effektive Verfahren zur
ökonomischen Beschreibung von Sinneswahrnehmungen.
7.
In Form eines sogenannten experimentum crucis führt
ein Experiment eine Entscheidung zwischen einander
widersprechenden Theorien herbei.
9. Theorien haben
lediglich syntaktische Funktion als formaler Übersetzungsmechanismus
von empirischen Daten in mathematische Beschreibungen
(Datenmühlen). Sie zielen nicht auf
Wirklichkeitsstrukturen, sondern fungieren als mathematische Brücken
zwischen tatsächlichen und möglichen Beobachtungen.
10.
Modelle vermitteln keinen Einblick in Wirklichkeitsstrukturen. Indem
sie lediglich der Vorhersage und instrumenteller Manipulation der
Phänomene dienen, haben sie rein praktischen, utilitaristischen
Charakter. Es ist zweckmäßig, von Fall zu Fall
unterschiedliche Modelle auch nebeneinander zu benutzen. Da sie nur
Denkhilfen sind, ist die Problematik einer Synthese sich
gegenseitig ausschließender Modellvorstellungen im Sinne
der Idee einer einheitlichen Wirklichkeitsstruktur
ausgeklammert. Dieser ontologische Verzicht wird im Sinne einer
Komplementarität der Modelle legitimiert bzw. zum
methodischen Prinzip erhoben.
Da derartige dogmatische Behauptungen
nicht bloß in Einleitungen und Bemerkungen zu
Methode der Physik von Physiklehrbüchern, sondern auch in
den Präambeln und Handreichungen zahlreicher Lehrpläne
sogar als methodische Empfehlungen herumgeistern - einige
davon sind ihnen wörtlich entnommen - ist es notwendig, sie zu
diagnostizieren. Dabei ist das Hauptaugenmerk auf das Problem der
Begriffsbildung und Theoriendynamik gerichtet. Sollte sich jemand bei
dieser Diagnose ertappt oder betroffen fühlen, dann mag es für
ihn tröstlich sein, sich in guter Gesellschaft jener
Fachspezialisten zu befinden, auf die die bekannte Metapher von
LAKATOS zielt, diese verstünden von der Methode ihres Faches so
viel wie die Fische von der Hydrodynamik.
Die folgende Kritik
ist vor dem Hintergrund einer historischen Analyse der Entwicklung
der Methode der Physik und von der heutigen
wissenschaftstheoretischen Position eines hypothetischen Realismus zu
sehen.
3. Begriffs- und Theorienbildung in heutiger wissenschaftstheoretischer Sicht
Die oben
aufgeführten Behauptungen sollen jetzt im Lichte heutiger
Wissenschaftstheorie seziert werden.
3.1 Die Rolle des Experiments
Naturwissenschaftliche
Erkenntnisse basieren zwar auf Naturbeobachtungen, aber sie
werden nicht rein empirisch gewonnen. Das Experiment ist eine
gezielte theoriegeleitete Beobachtung. Es dient der Prüfung von
Hypothesen über den vermuteten Zusammenhang der Naturvorgänge.
Dementsprechend gibt es keinen direkten Weg von den
Sinneswahrnehmungen zu physikalischen Begriffen.
Adepten
und Epigonen des Empirismus die GALILEI gern zum Kronzeugen einer
rein induktiven Methode machen, sollten die historischen
Quellen genauer studieren! Sie wären nicht wenig überrascht,
welche Rolle GALILEI dem Experiment bei seinem methodischen Vorgehen
tatsächlich zuerkennt: Ich habe ein Experiment darüber
angestellt, aber zuvor hatte die reine Vernunft mich ganz fest davon
überzeugt, daß die Erscheinung so verlaufen mußte,
wie sie tatsächlich verlaufen ist (1). Dementsprechend hat
KANT in der Vorrede seiner Kritik der reinen Vernunft
GALILEIs methodisches Konzept in hervorragender Weise bildhaft
beschrieben:
Als GALILEI seine Kugeln die schiefe
Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere
herabrollen ließ,... ging allen Naturforschern ein Licht auf.
Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie
selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien
ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur
nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber
sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen zu
müssen; denn sonst hängen zufällige, nach keinem
vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in
einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht
und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen
allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten
können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach
jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr
belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers,
der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern
eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen
zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so
vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu
verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur
hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr
anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für
sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die
Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft
gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als
ein bloßes Herumtappen gewesen war (2).
Die
beiden Angelpunkte der physikalischen Methode sind demnach die
Prinzipien der Vernunft, d.h. die apriorischen Konzepte
und das Experiment. Ein theoretisches Konzept kann jedoch
nicht direkt auf die komplexen Phänomene, sondern erst auf deren
Idealisierungen angewandt werden. Im Experiment wird dann die
Brauchbarkeit des theoretischen Ansatzes getestet. Auch dies hat
bereits GALILEI klar herausgestellt:
Ich will mich im
Experiment davon überzeugen, daß die beim natürlichen
Fallen auftretenden Beschleunigungen mit den vorher (durch die
Theorie) beschriebenen übereinstimmen (3). Voraussetzung
für die Anwendung der physikalischen Methode ist die
Idealisierung. Dabei kommt es darauf an, die - wie
GALILEI erklärt - am besten passenden Begriffe und
Definitionen zu finden. Wie diese Anpassung der mathematischen
Abstrakta an die Naturphänomene geschieht, verrät uns
GALILEI selbst:
Bei der Untersuchung der natürlichen
beschleunigten Bewegung ließen wir uns von den Gewohnheiten der
Natur selbst leiten, die uns in all ihren verschiedenen Prozessen
lehrt, nur die allgemeinsten, einfachsten und leichtesten Mittel
anzuwenden (4).
Dies ist eine metaphysische
Hintergrundsüberzeugung, auf deren Rolle wir später bei der
genaueren Behandlung physikalischer Hypothesenbildung noch
ausführlicher eingehen werden.
Wir fassen zusammen:
Es
gibt keinen direkten induktiven Weg von den Sinneswahrnehmungen zu
theoretischen Termen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können
nicht durch den Prozeß der generalisierenden Induktion gewonnen
werden. Spezielle empirische Einzelerfahrungen lassen sich nicht zu
Allaussagen verallgemeinern. Die Erfahrung verweist auf geeignete
mathematische Konzepte, aber sie können nicht aus ihr direkt
deduziert werden.
NEWTONs Vorgehen erweckt zwar den Anschein,
er habe durch generalisierende Induktion aus den
drei KEPLERschen Gesetzen das Prinzip der allgemeinen Gravitation
gefunden. Aber die KEPLERschen Gesetze sind kinematische Gesetze, in
denen Kräfte und Massen nicht in dem Zusammenhang wie im
Gravitationsgesetz vorkommen (5).
Auch die KEPLERschen
Gesetze sind keineswegs einfach aus Beobachtungsdaten
gewonnen. Geleitet von metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen
einer Weltharmonie hat KEPLER sie durch intuitive
Handhabung seiner Hypothesis vicaria
(Ersatzhypothese) und problematischen sd-hoc-Annahmen in
nichtlogischer Weise gegen jede wissenschaftstheoretische
Vernunft in geradezu nachtwandlerischer Weise gefunden.
Das COULOMBsche Gesetz ist ebenfalls nicht aus Meßdaten im
Prozeß der generalisierenden Induktion abgeleitet. sondern
theoretisch in Analogie zum Gravitationsgesetz postuliert worden.
Auch die Entdeckung der Wellennatur der Materie zeigt in
alter Deutlichkeit, daß er keinen direkten, logisch zwingenden
Weg von empirischen Daten zu einer ganz bestimmten Theorie gibt.
DAVISON und GERMER konnten ihre Elektronenbeugungsmuster ganz im
Gegensatz zu der DE BROGLIEschen Dualismus-Hypothese mit besonderen
Annahmen über die Struktur der Atome theoretisch völlig
anders deuten (6).
Diese Überlegungen werfen ein
besonderes Licht auf das grundlegende Problem der physikalischen
Begriffsbildung. Die angeführten Beispiele sollten das vom
Empirismus nicht richtig erkannte, komplexe und sehr subtile
Zusammenspiel von Theorie und Erfahrung verdeutlichen. P. K.
FEYEHABENDs provozierende These, Erfahrungswissen werde erst durch
die Theorie erzeugt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.
Theoretische Konzepte entspringen der schöpferischen Phantasie
und Intuition. Es gibt dafür keine erlernbare Methode. Nach
EINSTEIN muß man sie einfach der Natur ablauschen.
Rechtfertigung erfahren theoretische Begriffe erst nachträglich
durch den pragmatischen Erfolg der gesamten Theorie und zwar in dem
Maße, wie die Begriffe eine kohärente Übersicht über
die Sinneserlebnisse ermöglichen.
Am Beispiel des
Kraftbegriffs kann leicht gezeigt werden, wie die Bedeutung
theoretischer Begriffe sich erst aus dem Kontext der ganzen Theorie
ergibt. Es ist nicht möglich, die Kraft außerhalb des
theoretischen Bezugsrahmens rein empirisch über das
HOOKEsche Gesetz zu definieren, da dies nur unter bestimmten
experimentellen Randbedingungen gilt. Auch eine exakte
Definition des Kraftbegriffs über das 2. NEWTONsche Axiom F = m
· a ist nicht zu erreichen; denn in der Relativitätstheorie
gilt:
F = dp/dt = d(mv)/dt = m · dv/dt + v · dm/dt.
Kräfte
verdanken ihre Existenz eben nicht exakten Definitionen, derart wie
man in der Mathematik Dinge definiert. Kräfte sind reale
Phänomene. Sie lassen sich nicht direkt, sondern nur über
ihre verschiedenen Wirkungen feststellen. Ihre Deutung als
Ursache einer Impuls-änderung erhält aber erst im Rahmen
des Gesamtsystems der Theorie einen besonderen Sinn. Das 2.
NEWTONsche Axiom ist kein Axiom im Sinne der Mathematik: es
beinhaltet Elemente der formalen Struktur der Theorie und
gleichzeitig spezielle, empirisch erfahrbare Gesetze der
Kraftwirkung.
Hinsichtlich der Kritik an den oben
aufgeführten Behauptungen veralteter wissenschaftstheoretischer
Positionen soll nun das Problem physikalischer Theorienbildung
detaillierter behandelt werden.
3.2 Theorienbildung
Es ist bereits
deutlich geworden: Theorien beginnen nicht mit einem Katalog von
exakten Definitionen, sondern eher mit einer Liste von nicht
vollständig festgelegten, d.h. offenen, flexiblen
Begriffsbildungen, die während des Ausbaus der Theorie und
erst im Rahmen des Kontextes der ganzen Theorie eine allmähliche
Ausschärfung und ihre semantische Bedeutung gewinnen. Bei den
wegen ihrer Anschaulichkeit vermeintlich didaktisch nützlichen
operationalen Definitionen, z.B. den der elektrischen und
magnetischen Feldstärken, darf man nicht übersehen, daß
die Operation des Messens diesen Begriffen keine exakte physikalische
Bedeutung geben kann. Die operationalen Definitionen E = F/q
bzw. B = F/(q·v) als Meßvorschriften sind keine rein
empirischen Prozeduren. Sie setzen theoretische Vorstellungen über
das Definiendum bereits voraus. Die physikalische Bedeutung, d.h. die
Semantik der Felder ergibt sich erst aus dem Gesamtkontext der
MAXWELLschen Theorie des Elektromagnetismus. Sie ist ein
hervorragendes Beispiel, an dem das Wesen einer physikalischen
Theorie wissenschaftstheoretisch-didaktisch aufgezeigt werden
kann.
Allgemein versteht man unter einer physikalischen
Theorie eine geordnete Menge von Einzeldaten sowie Gesetzesaussagen,
die durch logische Ableitungsbeziehungen untereinander verbunden
sind. Eine Theorie ist ein hypothetisch-deduktives System, mit dem
man einen bestimmten Wirklichkeitsbereich erklären kann.
Die Theorie ermöglicht, nachprüfbare Vorhersagen zu machen.
Durch semantische Zuordnungsregeln werden beobachtbare Fakten
mit abstrakten mathematischen Termen in Korrespondenz gesetzt.
Theorien ragen über die Erfahrung hinaus, d.h. theoretische
Terme, wie z.B. Wahrscheinlichkeitsamplitude, Vektorpotential,
Eigenvektor, stehen nur in einem sehr indirekten Zusammenhang mit
Beobachtungsdaten. So gibt es z.B. keinen direkten Weg von den
verwickelten Beobachtungsdaten der Linienspektren zu dem
mathematischen Term der Wahrscheinlichkeitsamplitude der
SCHRÖDINGER-Gleichung.
Solche Begriffe werden, wie L. DE
BROGLIE es hinsichtlich seiner Idee der Materiewellen
sehr treffend formuliert hat, durch une sorte d'illumination
intérieure (7) oder - wie M. BORN es ausgedrückt
hat - durch intuitives Erraten (8) gefunden. Ihre
Rechtfertigung erfahren sie durch ihren Erfolg im Rahmen der
Gesamttheorie.
Die Evidenzmenge. d.h. die beobachtbaren
Fakten, auf die sich eine Theorie stützt, ist immer kleiner als
die Referenzmenge, d.h. die möglichen Objekte, auf die sie sich
bezieht, und die sie symbolisch abbildet.
Repräsentant
einer klassischen Theorie ist die MAXWELLsche Theorie des
Elektromagnetismus. In ihr sind zahlreiche, zunächst unabhängig
nebeneinander stehende Gesetzmäßigkeiten der
Elektrostatik, Magnetostatik in vier Grundgleichungen
miteinander verbunden.
Der Begriff des Verschiebungsstromes
ist ein gutes Beispiel eines abstrakten Theorienelements, das weit
über den vorherigen Erfahrungsbereich der Theorie
hinausragt und diese erst damit zu voller Entfaltung brachte. Dieser
theoretische Term verleiht den MAXWELL-Gleichungen gerade eine
solche Struktur, die es MAXWELL erlaubte, die Existenz
elektromagnetischer Wellen theoretisch vorherzusagen. Der 20 Jahre
später gelungene Nachweis elektromagnetischer Wellen durch H.
HERTZ konnte erst den bis dahin hypothetischen Begriff des
Verschiebungsstroms rechtfertigen. Die Tatsache, daß
elektromagnetische Wellen sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten,
führt zu der bedeutenden Erkenntnis, daß das Licht
ein elektromagnetischer Vorgang ist. Damit wurde die Optik zu einem
Teilgebiet der Elektrodynamik. Dies ist ein Beispiel einer
systematischen Zusammenfassung einzelner vorher unabhängiger
Theorien zu einem einheitlichen, übergreifenden theoretischen
Konzept.
Dieses Streben nach systematischer Vereinfachung und
explanativer Kohärenz ist stets Motor der Theoriendynamik.
Die
semantischen Zuordnungsregeln zwischen den mathematischen Termen
einer Theorie und ihrem Realtext hatten wir schon als
Korrespondenz-regeln oder Referenzhypothesen bezeichnet. Im Detail
haben diese Referenzhypothesen (9) folgende Funktion:
1.
Innertheoretische Kriterien fordern logische Kohärenz, sowie
begriffliche und systematische Einfachheit und einen möglichst
geringen Kontingenzanteil. Weiterhin soll die Theorie dem Referent
strukturell angepaßt sein.
2. Zwischentheoretische
Kriterien verlangen, daß die Referenzhypothese nicht in
Widerspruch zu anderen Korrespondenzregeln und bewährten
Theorien gerät.
3. Metatheoretische Kriterien enthalten
grundsätzliche Annahmen über die Beschaffenheit der Natur,
wie z.B. Symmetrie, Einfachheit oder Zweckmäßigkeit. Sie
sind oft getragen von dem Streben nach prinzipieller
Vereinheitlichung und dem Suchen nach einer übergreifenden
theoretischen Konzeption (z.B. Erhaltungskonzept, Kausalität).
4. Die Referenzhypothese darf nicht im Widerspruch zur
experimentellen Erfahrung stehen. Sie ist dann fruchtbar, wenn
bisher unbekannte Zusammenhänge vorhergesagt und gleichzeitig
neue Testmöglichkeiten geschaffen werden.
3.3 Experimentum crucis
Die letzte
Referenzhypothese lenkt uns auf einen zentralen Punkt unserer
wissenschaftstheoretischen und didaktischen Überlegungen. Kann
durch ein experimentum crucis eine endgültige
experimentelle Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden
Theorien herbeigeführt werden? Wie sind Messungen zu bewerten?
Stimmen einzelne Messungen mit der theoretischen Vorhersage
überein, dann kann man daraus noch nicht auf die Gültigkeit
der Theorie schließen. Andererseits folgt aus dem nicht
erwarteten Ausfall einer Messung noch nicht, daß die Theorie zu
verwerfen ist.
Diese Erkenntnis soll an Hand von
Test-Situationen, die in der Entwicklung der Physik eine wichtige
Rolle gespielt haben, belegt werden.
TYCHO BRAHE erkannte das
copernicanische System nicht an und entwarf ein System. bei dem sich
alle Planeten außer der Erde um die Sonne bewegen, und dieses
ganze System sich dann um die Erde dreht. Er hielt die nicht meßbare
Parallaxenbewegung der Fixsterne für das experimentum
crucis gegen das copernicanische System. Dabei hatte er jedoch
nicht bemerkt, daß diese Testimplikation die Richtigkeit seiner
Hilfshypothese voraussetzt, daß die Fixsterne so nahe bei der
Erde sind, daß ihre Parallaxenbewegung mit seinen Instrumenten
beobachtbar war. BRAHEs Hilfshypothese ist falsch, und deshalb ist
das Nichtauftreten der gesuchten Parallaxe kein experimentum
crucis. Die Fixsternparallaxe, die etwa 1/3 Bogensekunden
beträgt, konnte erstmalig 1838 durch den deutschen Astronomen
BESSEL gemessen werden.
Im 19. Jahrhundert glaubte man,
FOUCAULTs Experiment, in dem festgestellt wurde, daß die
Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser ist, sei
ein solches experimentum crucis, das zwischen der
Korpuskulartheorie des Lichtes von NEWTON und der Wellentheorie von
HUYGENS entscheiden könne. Man meinte dieses Experiment als
Rechtfertigung der Wellentheorie ansehen zu können. Ist es
dies wirklich?
Die Vorhersage der Korpuskulartheorie, daß
die Lichtgeschwindigkeit im Wasser größer als in Luft sei,
basiert auf einer ganzen Gruppe von Hypothesen, wobei die
Emissions-Hypothese, welche das Licht als Teilchenstrom
interpretiert, nur eine einzige, mögliche Prämisse
darstellt. Daneben stehen Hypothesen über die Wechselwirkung der
Lichtkorpuskel mit verschiedenen Medien. Analog werden in der
Wellentheorie Hypothesen über die Ausbreitung von Wellen in
verschiedenen Medien postuliert, die sich wieder auf eine Menge
von Annahmen stützen, welche dann nach einer langen
Argumentationskette die Aussage implizieren, daß die
Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser sein
sollte.
Man kann aus dem Ausfall des FOUCAULT-Experiments
daher nur den Schluß ziehen, daß nicht sämtliche
Hypothesen der Korpuskeltheorie richtig sind. Mindestens eine muß
falsch sein. Aber das FOUCAULT-Experiment sagt nichts darüber
aus, welche es ist.
Daraus folgt. daß der Physiker
niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe
von Hypothesen im Rahmen der Gesamttheorie der Kontrolle des
Experiments unterwerfen kann (5).
Ein experimentum
crucis im strengsten Sinne ist nicht möglich! Es kann
lediglich Hinweise darauf geben, welche von zwei rivalisierenden bzw.
sich widersprechenden Theorien der Erklärung empirischer
Daten adäquater erscheint und damit die Tendenz zukünftiger
theoretischer Entwicklungen beeinflußt, die dann neue
Entscheidungsexperimente implizieren.
3.4 Die metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen
Wir haben Theorien
als hypothetisch-deduktive Systeme gekennzeichnet. Motor und
Katalysator der Theoriendynamik sind die in allen
Forschungsprogrammen wirksamen metaphysischen
Hintergrundsüberzeugungen. Während der logische
Empirismus metaphysische Ideen völlig auszuklammern versucht,
sehen wir heute in ihnen ein sehr wesentliches Element der
Theoriendynamik.
Diese Einsicht ist eine der interessantesten
Entwicklungen der modernen Wissenschaftstheorie.
Sie
bedeutet aber keineswegs die Wiederauferstehung einer
Irrationalisierung. Die metaphysischen Deutungsschemata werden im
Rahmen der Theorien-Validierung in rationaler Weise diskutiert (10).
Ihre Rechtfertigung können sie jedoch nicht nur logisch,
sondern erst durch eine Art historische Vernunft erfahren
(11). Hypothesen sind kreative Schöpfungen mit metaphysischen
Hintergrundsüberzeugungen, die nicht logisch, sondern
historisch verstehbar sind. Sie leiten sich nicht aus der Erfahrung
ab, bedürfen jedoch einer empirischen Überprüfung.
Die copernicanische Hypothese ist nicht aus der Erfahrung
abgeleitet, sondern die Wiederbelebung der platonischen Idee der
Harmonie und Schönheit der idealen Kreisbewegung. KEPLERs
metaphysische Triebfedern offenbaren sich bereits in dem Titel
seiner Werke Mysterium cosmographicum und Harmonices
mundi.
FARADAYs Konzept, den Zusammenhang von
elektrischen und magnetischen Erscheinungen aufzudecken, ist
bestimmt durch Ideen der romantischen Naturphilosophie von der
inneren Einheit aller Naturkräfte.
Die
Suche nach Extremalprinzipien bzw. Erhaltungssätzen ist
metaphysisch geleitet von der Idee eines weisen, sparsamen
Schöpfers bzw. der zuverlässigen Beständigkeit Gottes
(LEIBNIZ).
Der Kritik K. POPPERs am Positivismus kommt das
entscheidende Verdienst zu, bei der Analyse physikalischer
Hypothesenbildungen nachdrücklich aug die besondere Rolle
außerphysikalischer, d.h. metaphysischer Komponenten
aufmerksam gemacht zu haben (12). Während dabei POPPERs
normativer Ansatz jedoch die Entwicklung der Wissenschaft
(Theoriendynamik und Theorieablöse) durch den Prozeß der
logischen Falsifikation, im Bereich einer Logik der Forschung,
bestimmt sieht und für rational rekonstruierbar hält,
betrachtet Th. KUHNs (13) deskriptiver Ansatz die in Form
radikalen Paradigmawechsels sich vollziehende
Theorieablöse als ein Problem der Psychologie der
Forschung, bei dem wissenschaftliche Revolutionen
sich in der Art religiöser Bekehrungen darstellen.
In dieser überspitzten von Th. KUHN in der späteren
Diskussion mit LAKATOS teilweise wieder zurückgenommenen Form,
enthält der KUHNsche Ansatz für eine sozialwissenschaftlich
orientierte Didaktik eine Reihe von ideologischen Versuchungen, auf
die später noch eingegangen werden soll.
J. LAKATOS'
Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme,
die versucht, den normativen und deskriptiven Ansatz der
Wissenschaftstheorie ausgewogen in ein gewisses komplementäres
Verhältnis zu bringen, enthält entscheidende Ansatzpunkte
für moderne didaktische Forschungsprogramme (14).
Für
die Didaktik ist der Zusammenhang zwischen der ars inveniendi
den Entstehungszusammenhängen, und der ars iudicandi,
den Begründungszusammenhängen, hinsichtlich des
Verstehens von Wissenschaft besonders relevant. Die
Analyse der Entstehungszusammenhänge verweist den
Wissenschaftstheoretiker wie den Didaktiker nachdrücklich auf
die historische Dimension der Disziplin; denn nach MAXWELL läßt
sich Physik im Zustand des Entstehens am leichtesten verstehen, und
nach M. JAMMER kann man das, was Physik ist, auch nur historisch
verstehen.
Die didaktische Wertigkeit der beiden Komponenten
des context of justification und des context of
discovery für den Lern- und Verstehensprozeß von
Physik zu erkennen, definiert eine zentrale Aufgabe der
Physikdidaktik in Forschung und Lehre (15). Gelungene Lösungen
möchte ich den context of instruction nennen.
TEM-Diagramm
3.5 TEM -
Diagramme
Die bisherigen
Überlegungen zur Hypothesenbildung und Theorien-dynamik, die den
komplexen Prozeß der Wissenschaftsentwicklung bestimmen, lassen
sich übersichtlich in einem dreidimensionalen Schema darstellen.
In diesem Diagramm symbolisiert E die empirische
und M die mathematische Dimension. Orthogonal zu der
EM-Ebene erhebt sich die T-Achse. Unter Fortführung von G.
HOLTONs Konzept Thematische Analyse der Wissenschaft (16)
soll sie die thematische Komponente der
Wissenschaftsentwicklung symbolisieren. Sie repräsentiert die
historischen, psychologischen, religiösen und metaphysischen
Hintergrundsüberzeugungen. die einzelne Forscher oder
Epochen als Evidenz-wahrheiten und Ideen von der Beschaffenheit der
Natur und der Wirklichkeit vertreten haben. Zu ihnen gehören:
Einfachheitspostulate, Erhaltungssätze der Substanz und
Bewegung, die Antagonismen Kontinuität oder Diskontinuität
des Substrates, Stofflichkeit und Form, Strukturiertheit und Chaos.
Die Punktmenge der E-Achse soll die empirischen Daten
darstellen. Die M-Achse symbolisiert die mathematische Logik und
Syntax der Theorie.
Im Prozeß der Idealisierung
oder der Herausarbeitung reiner Phänomene werden die
Punkte der EM-Ebene durch eine empirische und mathematische
Komponente gekennzeichnet.
Physikalische Korrespondenzregeln
stellen sich in dieser Symbolik dann als verschiedene
Linienelemente in der EM-Ebene dar.
In diesem
zweidimensionalen Schema der EM-Ebene zur mathematischen Darstellung
empirischer Daten vollzieht sich nach den Vorstellungen des
Empirismus die Entwicklung der Wissenschaft, die im Sinne des
Positivismus nicht auf eine Erfassung der Wirklichkeit,
sondern lediglich auf die zweckmäßige, ökonomische
Darstellung von Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist, mit
dem Ziel, richtige Voraussagen über Naturvorgänge machen zu
können. Korrespondenzregeln werden nach der Methode der
logischen Falsifikation geprüft. EINSTEIN hat dieses methodische
Konzept ein primitives Ideal (17) genannt. Diesem Ideal
wird jedoch bewußt oder unbewußt bei primitiven
didaktischen Konzepten immer noch Tribut gezollt. Diese
zweidimensionalen Konzepte der EM-Ebene übersehen
dabei die imaginative Kraft der Theorienbildung. Sie ist in
unserem Schema durch die T-Achse gekennzeichnet, bei der das Symbol T
im Sinne von HOLTON zunächst für Themata,
implizite aber auch für Tempus - interpretiert als
zeitlich historische Dimension - stehen soll.
In unserem
TEM-Diagramm stellen sich physikalische Theorien als dreidimensionale
Wirklichkeitsgebilde dar. Ihre Geometrie ist
durch die Linienelemente der Referenzhypothesen bestimmt.
Während die TM-Ebene die Ebene der mathematisch (logisch)
kontrollierten kreativen Intuition symbolisiert, soll die TE-Ebene
den qualitativen Aspekt physikalischer Modellbildung
veranschaulichen. Vortheorien können sich in der EM-Ebene
entwickeln. In dieser Ebene sind auch gewisse
Entscheidungsexperimente im Sinne von Verifikation oder
Falsifikation eines mathematischen Ansatzes möglich, z.B.
GALILEIs alternative Ansätze für den Bewegungsablauf des
freien Falls: v · t oder v · s (s: Fallweg, v:
Geschwindigkeit, t: Zeit) sind hier entscheidbar.
Widersprüche
zwischen Theorien können jedoch nicht in der EM-Ebene aufgelöst
werden. Dazu bedarf es der Einbeziehung der thematischen Dimension
der T-Achse. NEWTONs Vorstellung eines absoluten Raumes
als Sensorium Gottes ist eine metaphysische
Hintergrundsüberzeugung. Er glaubte, diese Vorstellung durch
seinen berühmten Eimerversuch empirisch bestätigt zu haben
(18). E. MACH (19) interpretierte das NEWTONsche Experiment im Rahmen
seiner positivistischen Philosophie indem er, die von NEWTONs als
absolut angesehene Drehung des Wassers im Eimer, als Relativbewegung
hinsichtlich der Fixsterne deutete. Die Verformung der
Wasseroberfläche, die NEWTON durch die Fliehkräfte
erklärte, wird nach MACH durch die kreisenden gravitierenden
Fixsternmassen verursacht. Das Eimerexperiment ist also kein
Entscheidungsexperiment. MACHs positivistische Hypothese ist nicht
weniger metaphysisch als die NEWTONs. Auch MACHs Empirismus ist auf
Erfahrung gegründet. Durch Erfahrung kann man zwar wissen, daß
man durch sie Erkenntnis gewinnen kann, aber man kann so nicht
wissen, daß man nur empirisch Erkenntnisse gewinnen
kann. So ist z.B. EINSTEINs Idee von der Harmonie und Symmetrie der
Welt nicht aus Erfahrung gewonnen; da sie als konstruktives
Erkenntnis-Prinzip mit jeder möglichen Erfahrung vereinbar ist,
bzw. diese erst ermöglicht. Dieses Faktum verweist wiederum auch
auf die historische Dimension des Rechtfertigungsproblems
physikalischer Hypothesen- und Theorienbildungen.
Die
Entstehung der Relativitätstheorie ist durch eine solche
Situation gekennzeichnet. Sie ist charakterisiert durch den
dramatischen Widerspruch zwischen der MAXWELLschen Theorie des
Lichtes und der klassischen Forderung nach der Gleichberechtigung
aller Inertialsysteme. Beobachter in verschiedenen
Trägheitssystemen sollten hinsichtlich der
Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes nach klassischen
Überlegungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je
nachdem, ob das System sich in Richtung des Lichtes oder
entgegengesetzt bewegt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie läßt
sich nun dieser vermeintliche Widerspruch zur MAXWELL-Theorie, nach
der die Lichtgeschwindigkeit immer gleich bleiben muß,
auflösen? Es gibt zwei einander entgegengesetzte Lösungen.
Die eine stammt von LORENTZ und FITZGERALD und die andere von
EINSTEIN. Diese Lösungen sind nur unter Einbeziehung der T-Achse
unseres Diagramms zu bewerten. LORENTZ und FITZGERALD einerseits und
EINSTEIN andererseits hatten unterschiedliche
Hintergrundsüberzeugungen hinsichtlich ihrer Vorstellungen
von der physikalischen Wirklichkeit. Dementsprechend
stellte LORENTZ die Hypothese eines Ätherwindes auf.
Die durch ihn verursachten Kontraktionskräfte verkürzen
Strecken und Maßstäbe in Bewegungsrichtung gerade so, daß
durch diesen Effekt die Verkleinerung der Lichtgeschwindigkeit genau
ausgeglichen wird. EINSTEIN dagegen erklärt die Invarianz der
Gesetze der Lichtausbreitung nicht durch derartige, anschaulich
vorstellbare Kräfte, sondern mit Hilfe der abstrakten
Vorstellung einer unterschiedlichen Raum-Zeitstruktur für
verschiedene Inertialsysteme, wobei er ausdrücklich an der
Gleichberechtigung aller Trägheitssysteme in dem Sinne festhält,
daß kein Beobachter behaupten kann, ausgezeichnete, d.h.
absolute Maßstäbe zu besitzen. Der vermeintliche
Widerspruch zwischen der Gleichberechtigung aller Inertialsysteme und
der Invarianzforderung der MAXWELL-Gleichungen wird durch Aufgabe der
klassischen Vorstellungen von Raum und Zeit aufgelöst. Kann
experimentell entschieden werden, ob die EINSTEINsche oder die
LORENTZsche Lösung die richtige ist?
Die
mathematische Darstellung der empirischen Befunde, d.h. die Erklärung
des berühmten MICHELSON-MORLEYschen Experiments gibt in der
EM-Ebene keinen Hinweis. Ist dann ein experimentum crucis
hinsichtlich der LORENTZschen bzw. der EINSTEINschen
Deutungshypothese, d.h. mit Einbeziehung der T-Dimension unseres
Diagramms möglich? Beide Hintergrundsüberzeugungen erweisen
sich als im Einklang mit der Erfahrung stehend, aber keineswegs durch
sie zwingend begründet. Während die LORENTZsche
Interpretation von der Idee einer verursachenden Kraft getragen
ist, ist EINSTEINs Hypothese von dem Gedanken getragen ein
möglichst einfaches Gedankensystem zu suchen, das die
beobachteten Tatsachen zu einem Ganzen verbindet (20). Aus dieser
metaphysischen Hintergrundsüberzeugung (Monismus) opfert er die
klassische Raum-Zeit-Vorstellung, während der LORENTZschen
Ätherhypothese die Idee eines absoluten Raumes und einer
absoluten Zeit zugrunde liegen. die EINSTEIN als Metaphysik gerade
ablehnt. Wieso hat sich dann ohne die Möglichkeit eines
Entscheidungsexperiments EINSTEINs Hintergrundsüberzeugung
hinsichtlich der Struktur der Wirklichkeit durchgesetzt? Ihre
explanative Kohärenz hinsichtlich der Erfassung der
physikalischen Wirklichkeit als Ganzes von der Mikrophysik bis
zur Kosmologie hat sich als weit überlegen erwiesen. Ein
wesentliches Kriterium der Überlegenheit einer Theorie im
Vergleich zu ihrer Vorgängerin besteht darin, daß sie
methodisch mehr Falsifikationsmöglichkeiten als diese enthält.
Am treffendsten hat EINSTEIN selbst seine metaphysische
Hintergrundsüberzeugung als Bewunderung für Schönheit
und Glaube an die logische Einfachheit der Ordnung und Harmonie
charakterisiert (21).
Eine detaillierte Analyse der
unterschiedlichen theoretischen Interpretationen des
Photoeffektes im Rahmen unseres TEM-Diagramms vermittelt tiefgehende
wissenschaftstheoretische und didaktische Einsichten. Eine
solche Untersuchung ist an anderer Stelle beabsichtigt. Soviel sei
hier jedoch schon mitgeteilt: MILLIKANs hervorragende experimentelle
Arbeiten zur Untersuchung der EINSTEINschen Gleichung:
½·m·v2 + A = h·n
(v: Geschwindigkeit
der Photoelektronen, A: Austrittsarbeit, n:
Frequenz der einfallenden Strahlung, h: PLANCKsches Wirkungsquantum)
veranlaßten diesen keineswegs zu Annahme der EINSTEINschen
Lichtquantenhypothese. MILLIKAN bemerkt dazu: Der Erfolg
der Gleichung von EINSTEIN ist augenscheinlich ein vollkommener - und
trotzdem hat sich gezeigt, daß die physikalische Theorie, als
deren symbolischer Ausdruck jene Gleichung bezeichnet wurde,
unhaltbar ist... Das Experiment hat die Theorie überholt - oder
besser gesagt, es hat, geführt von einer falschen Theorie,
Beziehungen aufgedeckt, welche von höchster Wichtigkeit sind...
(22).
Die MILLIKANschen Experimente unterliegen einer
Eigendynamik, die ihn nach falschen Messungen und unzutreffenden
Deutungen dann aber wieder zur späteren Anerkennung der
EINSTEINschen Lichtquantenhypothese führen. Diese
Eigendynamik zeigt sich darin, daß die MILLIKANschen
Experimente dann eigentlich nicht der Überprüfung der
Photonen-Hypothese dienen, sondern die experimentelle
Verifizierung der EINSTEIN-Gleichung zum Kriterium für die
Angemessenheit und Güte der verwendeten Geräte und
instrumentellen Techniken wird. Das Faktum, daß ein begabter
Forscher die experimentelle Überprüfung einer aus der
Quantenhypothese folgende Gleichung zunächst dazu benutzt, diese
zu widerlegen, um sie dann später wieder als Bestätigung
der Hypothese anzusehen, wirft ein erhellendes Licht auf das sehr
komplexe Wechselspiel von Theorie und Experiment, vor allem jedoch
auf die bereits oben aufgezeigte Problematik der
Entscheidungsexperimente. Eine genaue Kenntnis dieser Zusammenhänge
könnte wesentlich dazu beitragen, die im Zusammenhang mit
dem Dualismusproblem immer noch gepflegten didaktischen
Scheinprobleme aufzudecken und zu beseitigen. Der Photoeffekt ist
kein experimentum crucis weder gegen die Wellentheorie
noch für die Korpuskeltheorie des Lichtes.
Ein weiteres
neuerdings wieder sehr aktuell diskutiertes Beispiel. das sich gut im
Rahmen unseres TEM-Diagramms behandeln läßt, ist das
berühmte EINSTEIN-ROSEN-PODOLSKY-Paradoxon (23). Grundsätzlich
handelt es sich dabei um die paradoxe Situation; daß bei
zwei getrennten quantenmechanischen Systemen, zwischen denen keine
physikalische Wechselwirkung besteht, die Ergebnisse von Messungen
korreliert sind.
Der Formalismus der Quantenmechanik sagt
diese Korrelation zwar exakt voraus, er enthält jedoch keinerlei
Hinweise darauf, wie sie zustande kommt, d.h. wie sie physikalisch zu
verstehen ist. Bei der Diskussion um diese Problematik, die allgemein
die Frage der Vollständigkeit der Quantenmechanik
betrifft, vertraten EINSTEIN und BOHR zwei grundsätzlich
verschiedene metaphysische Hintergrundsüberzeugungen
hinsichtlich der Verfassung der physikalischen Wirklichkeit (26).
Nach EINSTEIN ist Wirklichkeit primär durch Substanzen, die
bestimmte Eigenschaften (z.B. Ort und Impuls) haben, konstituiert.
Eine Messung deckt einen Zustand an sich auf. Nach BOHR wird
Wirklichkeit durch die Relationen zwischen Substanzen existent,
dadurch tritt sie erst im Meßprozeß in Erscheinung (11).
Kann man unter Einbeziehung der T-Achse unseres Diagramms diese
ontologische Kontroverse zwischen EINSTEIN und BOHR durch
ein experimentum crucis entscheiden? Oder ist auch hier
die Lage analog wie bei der Diskussion zwischen LORENTZ und EINSTEIN?
Die Experimente sind sehr viel diffiziler und aufwendiger. In
diesem Zusammenhang hat J. S. BELL 1964 nachgewiesen, daß keine
deterministische Theorie der verborgenen Parameter
alle statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik darstellen kann.
Dabei ist die Lokalitätsbedingung wesentliche
Voraussetzung. Sie besagt, daß der Ausgang einer Messung am
Meßgerät 1 nur vom Zustand des Mikroobjektes an
diesem Ort abhängen darf und nicht von dem Meßausgang am
Gerät II beeinflußt werden darf. CLAUSER, HORNE, HOLT und
SHIMONY (24) haben gezeigt, daß auch stochastische Theorien mit
verborgenen Parametern mit dem Formalismus der Quantenmechanik in
Widerspruch geraten, wenn sie die Lokalitätsbedingung erfüllen
(25).
Offensichtlich kommen lokale Theorien zu anderen
Vorhersagen als die Quantenmechanik. Wieder stellt sich die
Frage: kann durch ein experimentum crucis eine
Entscheidung zwischen diesen beiden theoretischen Konzepten
herbeigeführt werden? Durch den Ansatz von BELL und seine
Verallgemeinerungen ist es jedenfalls möglich, eine Reihe von
Theorien mit verborgenen Parametern zu selektieren. Dabei zeigt sich,
daß alle Erfahrungen durch die Quantenmechanik exakt
wiedergegeben werden.
Noch ist nicht ganz klar, welche Opfer
an gewohnten Vorstellungen gebracht werden müssen, um auch hier
dem Prinzip der explanativen Kohärenz der Interpretation
physikalischer Wirklichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Die
Experimente entscheiden dabei direkt nicht, sondern die Art und
Weise, wie wir diese unter Einbeziehung der T-Achse interpretieren.
Wenn jedoch in dem Aufsatz d'ESPAGNAT Die Quantentheorie
und die Realität (Scientific American, 1979) behauptet
wird, daß die Position des Realismus, nach der die Natur auf
Objekten aufgebaut ist, die unabhängig von menschlichem
Bewußtsein existieren, nicht mit der Quantenmechanik und
experimentellen Fakten zu vereinbaren wäre, und andere
Physiker kritiklos dies nacherzählen, dann verrät dies
mangelnde wissenschaftstheoretische Einsicht und illustriert sehr gut
die Situation, auf die die eingangs zitierte Metapher von LAKATOS
zielt.
3.6 Der Realitätsbezug physikalischer Theorien und Modelle
P. DUHEM hat in
seiner Untersuchung über Ziel und Struktur physikalischer
Theorien (5) klar herausgestellt, daß Theorien die
Wirklichkeit nicht wörtlich oder vollständig, sondern
immer nur unvollständig symbolisch abbilden. Sie enthalten
begriffliche Elemente, die wesentlich über die Beobachtung
hinausgehen. Theorien arbeiten dabei mit Modellvorstellungen, die auf
die Erfassung der Realität zielen. Solche Modelle sind ein
entscheidendes Hilfsmittel bei der Erfindung, Anwendung und
Weiterentwicklung physikalischer Theorien. Sie sind vereinfachte
Kandidaten (Repräsentanten) der Realität. Da Modelle als
ein konstituierendes Element von Theorien gleichsam die begriffliche
Skizze des Objektbereichs sind, dessen Existenz die Theorie
behauptet, ist eine Modelldiskussion nicht zu lösen von
grundsätzlichen Einsichten hinsichtlich des Zieles und der
Struktur physikalischer Theorien.
Dies sei besonders betont,
weil der in der didaktischen Literatur fast inflatorisch verwendete
Modellbegriff Gefahr läuft, eine Alibi-Funktion für nicht
verstandene Theorien zu erhalten. Eine derartige Elementarisierung
ist abzulehnen. Allgemein ist ein Modell eine bildhafte oder
schematische begriffliche Repräsentation eines realen
physikalischen Objektes oder Vorgangs. Man bezeichnet es nach M.
BUNGE (26) besser als Modellobjekt.
Wenden wir
uns nun der entscheidenden Frage zu:
Wie und in welchem Sinne
bildet eine physikalische Theorie bzw. ein Modell einen Ausschnitt
aus der Wirklichkeit ab?
Diese Frage ist zu verschiedenen
Zeiten und von verschiedenen philosophischen
Hintergrundsüberzeugungen ganz unterschiedlich beantwortet
worden.
Die phänomenologische Auffassung deutet Theorien
als Instrument zur denkökonomischen Beschreibung der
Sinneswahrnehmungen. Dies ist die Auffassung des Positivismus
MACHscher Prägung.
Die Kopenhagener Interpretation der
Quantenphysik neigt mehr zu einer operationalistischen
Theorie-Deutung.
In der klassischen Physik konnte man davon
ausgehen, daß die Wechselwirkung der Meßvorrichtung mit
dem Beobachtungsobjekt vernachlässigbar ist. Wegen der
Unbestimmtheitsrelation ist dies in der Quantenphysik prinzipiell
nicht möglich. Nach ihr sind z.B. Orts- und Impulsmessungen
einander ausschließende Meßverfahren.
Nach der
Kopenhagener Interpretation besteht eine unaufhebbare Verknüpfung
zwischen der Meßapparatur und dem Mikrosystem. Beide zusammen
stellen das Quantenphänomen dar. Die Y-Funktion
beschreibt nicht mehr die Wirklichkeit an sich, sondern die durch den
Experimentator im Meßprozeß aktualisierte Wechselwirkung
des Mikro-systems mit der Meßvorrichtung. In diesem Sinne
konstituiert die Kenntnisnahme des Beobachters die faktische
Realität des Mikroobjektes.
Nach dieser
Interpretation vermittelt Physik nicht mehr ein Bild der Natur,
sondern ein Bild unserer Kenntnis über die Natur.
Ort
und Impuls eines Mikroobjektes existieren nicht unabhängig von
der Beobachtung, sondern erst im Meßprozeß werden sie
existent.
Daher ist es nicht mehr ohne weiteres möglich,
dem Mikroobjekt selbst eine physikalische Eigenschaft zuzuschreiben.
Im Gegensatz zu den Objekten der klassischen Physik, kann man
Mikroobjekte nicht als autonome Elemente der Wirklichkeit ansehen.
Sein ist nach dieser Interpretation gemessen
werden.
Diese Position wird von den realistischen
Kritikern der Kopenhagener Interpretation nicht akzeptiert. In den
letzten Jahren wurde im Zusammenhang mit der Aufnahme der alten
Diskussion um verborgene Parameter verstärkt Kritik
vorgetragen. Eine Entscheidung zwischen beiden Positionen der
quantenmechanischen Wirklichkeitsinterpretation, - etwa durch ein
experimentum crucis - ist nicht möglich, da sie von
unterschiedlichen metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen
ausgehen.
Bei einer instrumentalistischen Deutung kommt einer
Theorie nur eine syntaktische Funktion zu. Theoretische Terme werden
durch Reduktionsverfahren auf Beobachtungsbegriffe
zurückgeführt. Dabei wird der Realitätsbezug bewußt
ausgeklammert. Vertreter des logischen Empirismus haben sich
diese erkenntnistheoretische Position weitgehend zu eigen gemacht.
Der hypothetische Realismus dagegen geht davon aus, daß
die Theorie essentiell über die Erfahrung hinausgeht. Dabei
bildet die Theorie die Wirklichkeit nicht porträtmäßig
oder ikonisch ab, sondern sie versucht, die Subjektivität
zu transzendieren (26), um so reale Kontakte zur Wirklichkeit
herzustellen.
Naturwissenschaftliche Theorien sind
hinsichtlich ihres erkenntnis-theoretischen Status immer
hypothetisch. Sie sind kein ikonisches Abbild der Wirklichkeit. Sie
gehen davon aus, daß eine reale Welt mit bestimmten Strukturen
existiert, die man approximativ erkennen kann. Eine Theorie ist der
Wirklichkeit um so adäquater, je länger und besser sie
permanenten Versuchen, sie zu falsifizieren, widersteht.
Anzumerken
ist, daß der objektive Charakter der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis neuerlich durch die evolutionäre Erkenntnistheorie
(LORENZ, VOLLMER) eine starke Stütze erhält. Aufgrund des
Selektionsdrucks ist es nach dieser Theorie nicht möglich, daß
unser Erkenntnisapparat - ein Ergebnis der Evolution - uns keine
richtigen Informationen über die Wirklichkeitsstrukturen
liefert.
Die physikalische Methode hat immer das Ziel,
Wirklichkeit zu erkennen und darzustellen. Sie tut dies in einer
hypothetischen Weise; denn jede Theorie muß, wie bereits DUHEM
klar herausstellte, sowohl symbolisch als auch unvollständig
sein. Dabei ist die physikalische Methode jedoch kein unverbindliches
intellektuelles Spiel mit mathematischen Formalismen. Diese sind
lediglich Hilfsmittel und nur in dem Maße essentiell, wie sie
sich zur Erfassung der Realität als tauglich erweisen. Damit
soll nicht einem naiven Realismus das Wort geredet werden. Die
vorstehenden Betrachtungen zur Methode der Physik stehen vor dem
Hintergrund eines kritischen oder hypothetischen
Realismus. Hinsichtlich der Modell-Diskussion sollen ~e mit dazu
beitragen, den ideologischen Schleier der Nur-
Modellhaftigkeit unserer Naturerkenntnis zu lüften.
Ideologieverdacht ist auch noch in anderer Richtung
angezeigt. Gewisse Wissenschaftssoziologen propagieren eine New
History and Sociology of Science (27). Dort wird behauptet, das
erklärte Ziel der physikalischen Methode, Wahrheiten über
die Natur zu entdecken, sei eine Ideologie. Naturwissenschaftliche
Fakten sind danach nicht durch die Natur gegeben, sondern Ergebnisse
sozialer Konsensbildungen, die in der Wissenschaft
ausgehandelt würden. Daher sage eine physikalische Theorie
nichts über die Struktur der Wirklichkeit aus, sondern nur etwas
darüber auf welche Eigenschaften der Naturvorgänge man sich
geeinigt habe.
Wir haben wiederholt darauf hingewiesen,
welche Rolle historisch bedingte metaphysische
Hintergrundsüberzeugungen in der Theorien-dynamik spielen. Die
historische Analyse der physikalischen Methode sollte dies ja such
verdeutlichen und allgemein zeigen, in welcher Weise der context
of discovery für den context of justification
relevant ist (15). Aber Theorien müssen sich an den realen
Strukturen der Natur bewähren. Angesichts der pragmatischen
Erfolge der physikalischen Methode kann man sich nicht vorstellen,
daß diese lediglich auf einem sozialen Konsens beruhen sollen,
dem in der Natur nichts Reales entspricht. Durch sozialen Konsens
ließen sich ja auch unsinnige Theorien am Leben erhalten.
Beispiele dafür gibt es ja in anderen Bereichen. Wenn von jenen
Wissenschaftssoziologien behauptet wird, die Natur sei gleichsam
nur ein Produkt der Gesellschaft, dann scheint uns diese These
pervertiert.
Es ist zu befürchten, daß gewisse
Didaktiker hier Morgenluft wittern könnten, bildungspolitische
Utopien mit dem wissenschaftlichen Firmenschild der New History
and Sociology of Science (NHS) als neue Ziele des
Physikunterrichts zu propagieren. Anfällige gegen solche
modischen Ideologien, sollten den hervorragenden
Wissenschaftstheoretiker J. LAKATOS studieren, der nachdrücklich
davor gewarnt hat, daß eine derartige Relativierung des
Wahrheitsbegriffs in pseudowissenschaftlicher Maskierung zu dem
gefährlichen Schluß führen könnte, Wahrheit
läge in der Macht (politisch) wechselnder Mehrheiten.
Deshalb geht er mit jenen Wissenschaftssoziologen, die in dieser Art
den Wahrheitsbegriff zur Disposition stellen, mit harten Worten ins
Gericht. Er wirft ihnen vor, das grundlegende politische Credo
religiöser Irren von heute zu legitimieren (14).
4. Didaktische Perspektiven
Im Rahmen der
vorausgehenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen wurden
bereits explizit und implizit didaktische Konsequenzen deutlich
herausgestellt.
Die Methode der Physik, d.h. das sehr subtile
Wechselspiel von Theorie und Experiment, stand im Mittelpunkt der
Betrachtungen. Dabei wurde exemplarisch immer wieder auf didaktische
Perspektiven einer Einbeziehung der historischen Dimension in
die wissenschaftstheoretische Analyse eröffnet. Nach P. DUHEM
bedeutet nämlich die Darlegung der Geschichte eines
physikalischen Prinzips gleichzeitig die logische Analyse desselben
(5). Wir meinen, daß eine derartige Analyse auch die
didaktische Reflexion, Präsentation und Reproduktion des
physikalischen Erkenntnisprozesses wesentlich bestimmt.
Dieses
wissenschaftstheoretische Konzept der Physikdidaktik (Gießener
Modell) findet weithin internationale Anerkennung. Im Rahmen
eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten
Projektes laufen in unserem Institut eine Reihe von Entwicklungen,
die in besonderer Weise dazu beitragen werden, der didaktischen
Forschung wichtige Impulse zu geben und ihr neue Wege zu zeigen.
Wenn man von der Arbeitshypothese ausgeht, daß der
Schüler bzw. Student im individuellen Lernprozeß den Weg
der historischen Evolution physikalischer Erkenntnis im
Zeitraffertempo nachvollziehen muß, gewinnen vor dem
Hintergrund dieses theoretischen Konzeptes empirische forschungs- und
lernpsychologische Untersuchungen sowohl für die Didaktik als
auch für die Wissenschaftstheorie eine besondere Bedeutung.
Die sehr nützlichen Ansätze von PIAGET sollten
weiterentwickelt und dabei auf ein wissenschaftstheoretisches
Reflexionsniveau gehoben werden (28).
Eingangs wurde bereits
nachdrücklich auf die grundsätzliche Bedeutung
wissenschaftstheoretischer Analyse für die Inhalts- und
Stoffproblematik in Unterricht und Lehre hingewiesen. Diese kann
wesentlich dazu beitragen, vor neopositivistischer Stoffhuberei und
der Verbreitung entsprechender Zerrbilder der physikalischen Methode
zu bewahren.
Die in der vorliegenden Abhandlung aufgezeigten
Perspektiven verweisen darauf, daß der geistige Standort für
eine Didaktik ex mente physicis nicht im Fachbereich Pädagogik
oder interdisziplinär sein kann. Sie gehört als
integraler Bestandteil zur Disziplin. Dort kann sie wesentlich dazu
beitragen, die Kommunikation zwischen den speziellen Arbeitsgruppen
aufrecht zu erhalten und der Disziplin helfen, ihre innere Kohärenz
zu bewahren.
Physik-Didaktik, die sich genuin als Physik und
ebenso als Wissenschaftstheorie sui generis im Sinne der
vorgetragenen Überlegungen versteht, wird - unbeschadet von
einer ebenso naiven wie auch aus leicht durchschaubaren Gründen
gezielter Identifikation von Physikdidaktik mit reiner
Lehrerausbildung, zu der leider auch Didaktiker Anlaß geben -
wesentlich dazu beitragen, die Lehre auf dem höchstmöglichen
Stand der Forschung sowie der wissenschaftstheoretischen Reflexion zu
halten und damit der didaktischen Dimension der Fachdisziplin
ein besonderes Profil verleihen.
Literatur
(1) GALILEI, G.: Le
Opere, VI, 545, Edizione Nationale, Firenze 1890-1909
(2)
KANT, J.: Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1924
(3)
GALILEI, G.: Le Opere, VI
(4) GALILEI, G.: Le Opere, VI
(5)
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(6) KUHN, W., STRNAD, J.: 60 Jahre de Brogliesche
Materiewellen -eine wissenschaftstheoretische Nachlese, Köln
1984
(7) TONNELAT, M. A.: Louis de Broglie et la mécanique
ondulatoire, Paris, 1966
(8) BORN, M.: Physik im Wandel
meiner Zeit, Braunschweig 1958
(9) STÖCKLER, M. :
Philosophische Probleme der relativistischen Quantenmechanik,
Berlin 1984
(10) KANITSCHEIDER, B.: Wissenschaftstheorie der
Naturwissenschaft, Berlin 1961
(11) HÜBNER, K.: Kritik
der wissenschaftlichen Vernunft, München 1979
(12)
POPPER, K.: Logik der Forschung, Tübingen, 1976
(13)
KUHN, Th.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt
1967
(14) LAKATOS, J.: Die Methodologie der
wissenschaftlichen Forschungsprogramme, Braunschweig 1984
(15)
KUHN, W. : Die Rolle der Physikgeschichte in der
Physiklehrer-ausbildung und im Physikunterricht, Phys. BI. 38 (1982)
Nr. 7
(16) HOLTON, G.: Thematische Analyse der Wissenschaft,
Frankfurt 1981 SALTZER, W. G.: Wissenschaftsgeschichte und
Wissenschaftsphilosophie - ein komplementärer Ansatz in
Physik - Theorie - Experiment - Geschichte - Didaktik, Köln 1984
(17) SCHILPP, P. : Albert Einstein, Stuttgart 1951, 281
(18) NEWTON, J.: Mathematische Prinzipien der Naturlehre,
Erklärungen, Anmerkung IV
(19) MACH, E.: Die
Mechanik, historisch-kritisch dargestellt, Darmstadt 1963, 222
ff
(20) SCHILPP, P. : Albert Einstein, 281
(21)
a.a.O. 115
(22) MILLIKAN, R. A.: Das Elektron, Braunschweig
1922
(23) EINSTEIN / PODOLSKY / ROSEN: Can Quantum-Mechanical
Description of Physical Reality be considered complete, Phys. Rev. 47
(1935) 777 ff
(24) CLAUSER / SHIMONY: Bells Theorem
Experimental Tests and Implications, Reports on Progress in Physics,
41 (1978)
(25) STÖCKLER, M.: Philosophen in der
Mikrowelt - ratlos? Zeitschrift für Allgemeine
Wissenschaftstheorie 2/1985
(26) BUNGE, M.: Physik und
Wirklichkeit, im Erkenntnisproblem der Naturwissenschaften
(Herausgeber: L. KRÜGER) Köln 1970
(27) COLLINS, H.
M., SHAPIN, ST.. Edit. Sociology of Scientific Knowledge: A Source
Book, Bath UP, 1982
(28) KUBLI, F.: Piaget und
Naturwissenschaftsdidaktik, Köln 1981